Was die Sage bedeutet [Wiltener Gründungsagen]

Ist die ganze Sage vom Riesen Haymo nur leerer Schall oder leben in ihr Erinnerungen fort an längst verklungene Zeiten? Laht uns seh'n!

1. Der Silldrache

Die Sage vom Silldrachen ist uralt. Die Menschen vergangener Tage pflegten Erde und Luft mit ungeheuern Tieren [Ungeheuern] zu bevölkern, worunter zumeist die Naturgewalten zu verstehen sind, die oft mit unwiderstehlicher Gewalt das Werk von Menschenhand vernichteten.

Und so ist auch der Silldrache nichts anderes als die Sill selbst. Wie eine Schlange windet sie sich aus dem Gebirge heraus, und den ganzen Schotter, auf dem Wilten steht, hat sie herausgeworfen ins Tal. Wie oft wird sie dabei Acker und Wiesen überflutet haben, als sie noch wahllos links oder rechts gehen konnte! Der Goldschatz aber, den der Drache hütete, er liegt noch heute zum Teil ungehoben im Geäder unserer Berge.

2. Die Drachenzunge

Gläubig und zweifelnd sahen die Besucher Wiltens die Drachenzunge an, die zur Erinnerung an den Drachenkampf im Kloster aufbewahrt wurde. Sigmund der Münzreiche hatte sie kunstvoll in Silber fassen lassen, und als der wackere Weltreisende Felix Faber vorüber kam - man zählte erst 1484 -, da maß er sie ab und bestimmte ihre Länge mit drei Spannen. Der Tiroler Geschichtsschreiber Max Sittich von Wolkenstein beschreibt sie etwas nach 1600 mit den Worten:

vornen spieczig, hinten etwaß praiter, einer abgebrochenen wöhr klingen nit vast ungleich. Tschaveller, der Wiltener Chronist, verglich sie um 1731 mit einem Stück "ausgedorrtes Holtz".

Und was man sich erst alles erzählte! Ihr Gift soll durch die Jahrhunderte die alte totbringende Kraft und Wirkung bewahrt haben. Und als der Tiroler Landesfürst Erzherzog Ferdinand Karl ein nußgroßes Stückchen in Rindfleisch hüllte und es einem "hungrigen Hundl" vorwarf, da schwoll das arme Tierchen an, als das Gift in seinem Leib erwärmte, und verendete auf der Stelle. Auch an der allgemeinen Landesnot mußte die Zunge redlichen Anteil nehmen. Ihr Silberschmuck wurde schonungslos dem Schmelztiegel geopfert, und als die Feinde scharenweise ins Land kamen, da wurde sie gar nach Innsbruck verschleppt und in das Naturalienkabinett gesteckt, wo sie die Jahre 1808-1826 verlebte. Schwerverwundet, mit abgebrochener Spitze, kehrte sie wieder ins Kloster zurück. Dafür aber bekam sie bald nachher (1836) hohen Besuch: Fünf Professoren der Münchener Universität sprachen vor und stellten fest - was man sich schon vor 300 Jahren zugeraunt hatte - daß es sich nur um ein "uraltes Horn eines Schwertfisches" handle.

Und jetzt steht die ehrwürdige Zunge auf hölzernem Gestell, eingefaßt in wertloses Messingblech, das sich überdies noch loslöst und sieht neuen Zeiten und anderen Menschen entgegen.

3. Haymos Grab

Jahrhundertelang stand in der allen Wiltener Stiftskirche ein großes, geheimnisvolles Grab. Es stand zur linken Leite, vorne beim Hochaltar und maß 13 Fuß; 2 Fuß der Länge waren in die Mauer eingelassen, 11 Fuß waren frei. In diesem Grabe ruhe - so lautete die allgemeine Annahme - Haymo, der Riese, der Gründer des Stiftes. Später verfertigte man ein Holzbild und legte es der Länge nach auf das Grab.
Manche schüttelten wohl den Kopf und sagten, Riesen von solcher Länge habe es nie gegeben. Aber was hätte dann das Riesengrab in der Stiftskirche zu bedeuten?

Abt Andreas Mayr (1621-50) wollte Sicherheit gewinnen und ließ nachforschen. Man grub und grub, der sandige Boden wich, der Turm stürzte ein und beschädigte im Falle die Kirche. Man fand wohl zwanzig Leiber unbekannter Herkunft - doch die Knochen des vier Meter langen Riesen blieben aus.

Wer waren die zwanzig Unbekannten?

"Zweifellos berühmte Männer und Wohltäter des Gotteshauses", dachte man sich und bestattete sie in einem Ehrengrab. Weitere Gedanken machte man sich damals nicht und doch wäre des Rätsels Lösung so nahe gelegen.

Neben dem Hochaltar begräbt man nur ganz bevorzugte Männer. Man wird dort den Stifter und die ersten Klosterinsassen begraben haben und über ihren Ruhestätten errichtete man wahrscheinlich das große Grabdenkmal. In späterer Zei wußte man nur mehr, daß hier der Stifter des Klosters begraben sei, glaubte, daß er allein dies große Grab benötigt habe und schrieb ihm daher eine Länge von vier Metern zu.

Und Abt Andreas grub nach dem Gründer, fand ihn, war sich aber dessen nicht bewußt, daher kam es wohl, daß man der Grabstätte später beim Umbau der Kirche keine Bedeutung mehr zumaß, und so ist sie sang- und klanglos verschwunden, daß Tschaveller den Ort gar nicht mehr wußte.

4.Haymos Holzbildnis

So war von der Grabstätte Haymos nichts mehr übrig als die vier Meter hohe Holzstatue. Man legte sie zunächst in einen schwarzgebeizten Sarg, den man neben die Sakristei stellte, dann richtete man sie auf und brachte sie neben den Eingang der Kirche. Da aber "gar oft großes Geschwätz" unter den Besuchern entstand und manch einer auf den Sockel sprang, um von "dessen Länge eine unfehlbare Prob zu nehmen", da wurde der "guete Ries" auf das Abteidach zu den Fledermäusen verwiesen (um 1709). Dafür verfertigte man eine zweite Statue und brachte sie mit dem Bild seines Gegners in den Nischen der Kirchenfront an. Doch Abt Martin erbarmte sich seiner und ließ ihn in der Bibliothek unterbringen. Allein gleich dem ewigen Juden sollte er auch hier keine dauernde Stätte finden. Er mußte ganz ausziehen aus dem Klostergebäude und hinüber wandern in die Friedhof-Kapelle zum hl. Michael. Dort bekam auch er das Alter zu fühlen, zumal da ihm die nicht immer zarten Hände der Besucher gar arg zugesetzt hatten, so daß man ihn am Boden des Bibliotheksganges in Sicherheit bringen mußte. Doch neuerdings kam ein Abt mit erbarmendem Herzen, ließ den Armen in eine neue Fassung bringen und stellte ihn wieder in die Friedhofskapelle auf. (1902)

Dort drückt er sich heute ganz bescheiden in eine Ecke, sieht auf die kurzlebigen Menschen herab - und denkt träumend an die Jahrhunderte Zurück, die er kommen und verschwinden gesehen.

Am Sockel aber stehen die Verse:

AIs Tag und Zahl verloffen war,
Acht hundert schon verstrichen,
Zu sibenzig acht hats auch schon gmacht,
Da Haymon Todts verblichen.
Der tapffer Held hat sich erwehlt
Ein Closter nuff zu führen:
Gab alls hinein, gieng leibst auch drein,
Wollts doch nit selbst regieren.
Hat löblich glebt, nach Tugend gstrebt,
Ein Spiegel war er allen.
Riß hin, Rih her, ist nit mehr er,
Ins Grab ist er hier gfallen.

4. Haymo

Der tirolische Geschichtsschreiber Max Sittich von Wolkenstein läßt Haymo, den Stifter des Klosters Wilten, einen "Grafen diß Lanndts" sein, Guarinoni, der berühmte Haller Stadtarzt, nennt ihn den "erst Erbawer des herrlichen Innthals". Die Überlieferung des Klosters hält bis zum heutigen Tag daran fest, daß Haymo ein Gaugraf war, der im Streit seinen Grenznachbar im Oberinntal erschlug und zur Buße dafür das Kloster stiftete.

Sei dem, wie ihm wolle. Das eine steht fest, daß sich um den Stifter des Klosters uralte Volkserinnerungen rankten. [...]

Quelle: Hans Gamper, Wilten in der Sage, in: Wilten - Nordtirols älteste Kulturstätte, Hans Bator, Bd. I, 1924, S. 53ff