ANNA LADURNER (Anna Hofer)
von Anna Maria Achenrainer, 1964
Anna Hofer, geborene Ladurner
Ein wolkenloser Tag brach an. Vom ersten Sonnenstrahl erhellt, glänzten die grauen Schindeldächer der Höfe von St. Leonhard. Von dunklen Tannen, weiten Äckern und Wiesen umgeben, lag das Dorf friedlich eingebettet in seine hochsommerliche Wachstumsfülle. Früher als sonst hatte sich heute, am 21. Juli 1789, in den Gassen das Leben geregt. Die Passeirer begleiteten nach altem Brauch ein schmuckes Paar zur Trauung in die kleine Dorfkirche. Der junge Sandwirtssohn führte seine Erwählte, die dunkeläugige Bauerntochter Anna Ladurner aus Algund zum Altar. Ein liebes Lächeln stand dem Mädchen zu Gesicht, als es auf die ernsten Worte des Priesters: ,,. . und so frage ich Dich, Anna Ladurnerin, willst du den anwesenden Andreas Hofer zum Manne . ." leise mit ihrem Ja antwortete. Lerchenjubel schallte durch die offene Seitentüre in das Innere des weihrauchduftenden Kirchleins herein, und keinem Andächtigen, nicht einmal der Braut selbst, wurde in diesem feierlichen Augenblick gewahr, wie eine unsichtbare Hand über ihrem Haupt die grüne Myrthe ihres Mädchentums mit der Dornenkrone vieler leidgeprüfter Frauenjahre vertauschte.
Anna war das vierte von elf Kindern der Eheleute Ladurner aus der Lindhoflinie, einer angesehenen, mit einem Wappen siegelmäßig ausgezeichneten Familie des mittleren Etschtales. Am 27. Juli 1765 auf dem Plonerhof zu Algund geboren, verlebte Anna in ihrem Elternhaus eine frohe Jugend. Bei seinen Einkäufen in der Umgebung Merans mochte ihr späterer Gatte Andreas das schöne und tugendreiche Mädchen kennen und lieben gelernt haben. Hofer, dessen verlässliche Art allseits bekannt war, übernahm mit 22 Jahren die Wirtschaft am Sandhof, wobei ihn seine junge Frau eifrig unterstützte. Sieben Kinder wurden in den folgenden Jahren zu lebhaften Zeugen ihres überaus herzlichen Zusammenlebens. Von sechs Mädchen starben zwei im zarten Alter. Mit großem Verständnis widmete sich die Sandwirtin der Erziehung ihrer Kinder — Hans, Marieli, Röseli, Anneli und Gerdeli, welche alle fünf gesund und stark als echte Passeirer heranwuchsen.
An harte Bauernarbeit gewöhnt, war Anna auch im Hause und auf dem Feld unermüdlich tätig. Von Zeitgenossen, welche die Wirtin während der Freiheitskriege, als sie auf sich allein gestellt war, besuchten, wird sie als vernünftige, ruhige und fromme Frau geschildert. Still oblag sie ihrer gewohnten Pflicht und bediente nebenher, wie es stets am ,,Sand“ gehalten worden war, die Einkehrenden. Selten nur soll sie vor andern über den heldenmütigen Kampf ihres Mannes gesprochen haben, aber ihr Herz, das ist gewiss, weilte bei ihm und bangte für ihn. Ihm galten ihre Gebete und die Meinung derer, die sie in den Nottagen des Landes auf Wallfahrt schickte. Der auffallendste Zug ihres Wesens war ihre Verschwiegenheit, um nicht zu sagen — ihre Verschlossenheit. Im Gegensatz zu ihrem Manne war sie auch weit weniger leicht überredbar. An unübersichtliche Begeisterungen und unerfüllbare Wünsche verlor sie keine Stunde. Die nüchterne Wirklichkeit erkannte sie eher. So war die redlichdenkende Frau wie geschaffen, den stürmischen Charakter ihres Mannes, seinen Mut, seine Tatenlust, auf das Natürlichste zu ergänzen. Dabei blieb sie in ihrer Anpassungsfähigkeit so schmiegsam, dass man von Beeinflussung nicht sprechen konnte. Unzweifelhaft hat sie sich seinen großen Entscheidungen aus innerster Hingabe unterworfen. Der Sage nach soll sie es gewesen sein, welche die ersten Späne als Zeichen zum Aufstand anfangs April 1809 in den tosenden Passeierbach warf, dessen Wellen sie als Sendboten in die Etsch trieben, um den anderen Tälern zu verkünden, dass alles vorbereitet sei.
Mit glühender Seele erlebte sie den Tiroler Freiheitskampf. In den Tagen, da sich das Schlachtenglück zu Gunsten des Landes wandte, war es bezeichnend für die Bescheidenheit Annas, dass sie dem Regenten Andreas Hofer nicht in die Hofburg der Landeshauptstadt nachfolgte, um an seinem Ruhme teilzunehmen. Aber als es galt, in der zweiten Novemberhälfte des Jahres Neun ihrem geächteten Manne zur Seite zu stehen, teilte sie unentwegt dessen Schicksal und flüchtete mit ihm und den Kindern auf den Pfandlerhof in Oberprantach.
Anfangs Dezember verschärfte sich die Lage erneut. Hofer, der das Unheil herannahen fühlte, schickte Frau und Kinder in ein Versteck am hinteren Schneeberg; er und Kajetan Sweth begaben sich auf die Pfandleralm unterhalb der Rifflspitze. Anna litt unter der Trennung von ihrem Mann schmerzlich. Und in diesen ereignisreichen Wochen zeigte die Hoferin, welch außergewöhnlicher Opfer sie fähig war. Rasch entschlossen, eilte sie mit ihren Töchtern in einer eisigen Nacht zu Tal. Auf ihre Bitte hin nahm ein Bekannter die Mädchen heimlich bei sich auf. Als zur selben Zeit der Sandhof von feindlichen Soldaten geplündert wurde, bekümmerte sie das wenig. Ihre Sorge galt dem Schicksal ihres Mannes droben in dem armseligen Unterschlupf auf der Pfandleralm. Ohne zu zögern stieg sie daher am Heiligen Abend im eisigen Hauch des Bergwinters zur dürftigen Blockhütte hinauf, wo sich der Sandwirt wie ein scheues und gehetztes Wild verbarg. Zusammen mit dem fünfzehnjährigen Sohn Hans war sie gekommen, um dem Einsamgewordenen über die Weihnachtstage die Wärme ihrer fraulichen Nähe zu schenken. So erfuhr Andreas Hofer vor dem jähesten Absturz seines Lebens noch einmal die tiefe Geborgenheit in der Liebe seines Weibes. Sie, die Starke, milderte seine Zweifel, sprach von Hoffnung und tröstete ihn, wenn sich sein Blick misstrauisch abwandte. Unbeschreibliches lastete in solchen Stunden auf der Seele der Gattin und Mutter. Dann, am Morgen des Verrates, der schmachvollen Gefangennahme, als sie im Zug des wehrlosen Helden diesen barfüßig und ohne warme Kleidung über das schneebedeckte Gebirge talabwärts begleitete, war ihr Gang auf dem endlos scheinenden blutigen Pfade nur ein einziges stummes Gebet.
In Meran wurden die Gefangenen einem ersten Verhör unterzogen. Von dort brachte man am 29. Jänner 1810 Andreas Hof er, seinen Schreiber Sweth, den Sohn Hans und Anna Hofer auf einem Leiterwagen unter Bedeckung nach Bozen. Nur noch einen Tag und eine Nacht durfte der Sandwirt im Kerker zu St. Afra mit den Seinen verbringen, dann schlug die schwere Stunde des Abschieds von Frau und Kind.
Das Weinen und die Klagen des ganzen Volkes begleiteten Andreas Hofers traurige Fahrt nach Mantua, jener Stadt, in der sich sein Leben vollenden sollte. Anna und Hans Hofer blieben dessen ungeachtet weiterhin in Haft. Tags darauf erkrankte Hans. Die wunden Füße, an denen sich Spuren schwerster Erfrierungen zeigten, bedurften aufmerksamer Pflege. Der Knabe wurde in das Militärspital gebracht, und Anna musste ihn dort fremden Wärtern überlassen.
In dieser nachtdunklen Zeit zündete die edle Maria Anna Giovanelli der Sandwirtin ein schwaches Hoffnungslichtlein an. Ihrer Fürsprache gelang es, der gramgebeugten Frau die Freiheit zu erwirken. Aber dieser Friedensschimmer war nicht von langer Dauer. Zu Hause erwartete Anna neues Unheil. Der Sandhof bot einen völlig zerstörten Anblick. Aus Neumarkt traf eine letzte Nachricht von ihrem Manne ein, durch die er die schwergeprüfte Frau zum Ausharren ermunterte. Der Brief, der nebenbei der schönste Beweis ungetrübter ehelicher Liebe zwischen den Gatten ist, schließt mit dem erschütternden Bekenntnis: „Liebstes Weib, sei also beruhigt, ich hoffe mit der Hilfe Gottes, Dich wiederum zu sehen, und ist es nicht, so ergebe ich mich ganz in Seinen Willen. Ich habe als ehrlicher Mann in allen Stücken gehandelt, und folglich fürchte ich nichts. Bitte also, dass Gott mich und Euch alle unterstütze; ich küsse Dich und meine Kinder und bleibe immer Dein Andre Hofer."
Trotzdem verblieb der Sandwirtin nur geringe Hoffnung auf Begnadigung. Ungezählte Bittgänge vermochten das tragische Ende ihres Gatten nicht aufzuhalten. Und als sie nach Wochen von seinem Tode erfuhr, war das Maß ihrer Leiden voll. Unter dem furchtbaren Eindruck des Geschehens versagte ihr das Herz. Doch ungeahnt erhob sich Anna aus der Verzweiflung des Augenblicks, denn sie war wieder ganz — aus geheimen Seelentiefen gestärkt — jene lebensmutige Frau, als welche sie stets gegolten. Mit noch härterem Wollen als zuvor nahm sie fortab den unbarmherzigen Alltag auf. Aller Barmittel entblößt, stand sie mit ihren fünf Kindern da und hatte nicht einmal die nötigsten Lebensmittel zu ihrem Unterhalt. Angesichts des vollkommenen Zusammenbruches ihrer Wirtschaft beschloss sie, gleich nach Wien zum Kaiser zu fahren, um seine Hilfe für den Neuaufbau zu erbitten. Ihr Wunsch sollte erst im Juli desselben Jahres in Erfüllung gehen.
Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die Haltung der damaligen Wiener Höflinge, wenn wir eine Verordnung des Polizeipräsidenten Freiherrn von Haager lesen, die er anlässlich des Aufenthaltes der Sandwirtin allen Dienststellen der Stadt zur Kenntnisnahme übermittelte. Unter anderem heißt es darin: ,,. . es ist darauf zu sehen, dass die Witwe Hofers, solange sie in Wien bleibt, ein stilles und eingezogenes Leben führe, von ihrem Schicksal an öffentlichen Orten zu erzählen vermeide, und überhaupt, sobald sie Ansammlungen Neugieriger, die ihre Tracht bewundern, wahrnehme, sich in jeder Weise zurückhalte."
Noch mehr setzt uns in Erstaunen zu hören, dass Anna Hofer durch eine weitere Amtsverfügung gezwungen wurde, sich dortselbst unter dem Decknamen „Anna Ladurnerin", ihrem Mädchennamen, polizeilich zu melden. Man schämte sich nach dem Wiener Frieden also in gewissen Hofkreisen der ehrenhaftesten Männer und ihrer Angehörigen. Welch erniedrigende Verbeugung vor den Gesandtschaften der Bayern und Franzosen!
Nur Kaiser Franz war den Tirolern tief im Herzen gut geblieben. Er ließ die Hoferin rufen und machte ihr ein großzügiges Angebot. Da geschah das Seltsame, dass Anna, die scheue, wortkarge Bäuerin aus dem Passeier, offen vor den Monarchen hintrat und entschieden die Notlage ihres Hauses darstellte.
Der Kaiser, beeindruckt von ihrer Haltung, schlug ihr die Abwanderung aus dem bayrisch besetzten Tirol in die „österreichischen Staaten" vor, bewilligte 40.000 Gulden für den Ankauf eines Gutes in Niederösterreich und gewährte ihr bis zur Übernahme des Gutes eine jährliche Rente von 2000 Gulden. Endlich stellte er ihr noch die Ausfertigung des Adelsdiploms in Aussicht.
Und was tat Anna? Sie zeigte sich sehr schweigsam, und als man ihr gar zumutete, aus der Heimat auszuwandern, lehnte sie ab. Freiherr von Hormayr, mit den Tiroler Verhältnissen gut vertraut, war deshalb auf die Hoferin nicht wenig böse und erklärte ihren „Eigensinn" als eine Folge der mit der Muttermilch eingesogenen Anhänglichkeit an den heimatlichen Wurzelboden. Kaiser Franz versprach, der Sandwirtin und ihren Kindern trotzdem zu helfen. Schließlich willigte sie in eine Trennung von ihrem Sohne Hans ein, für den im feindlich besetzten Tirol keine günstige Zukunftsprognose gestellt werden konnte. Er sollte im Stift Admont auf Kosten des Kaisers eine sorgfältige Erziehung erhalten.
Anna selbst zog es unwiderstehlich in die angestammte Heimat zurück. Tausendmal lieber wollte sie mit ihren Töchtern in jahrelanger mühevoller Arbeit die karge Scholle bebauen, als in die verlockende Fremde ziehen! Was bedeuteten ihr Geld und Wohlstand, wo es um das heiligste Gut des Herzens, ihre Liebe zu Tirol ging, dem Lande, dem Andreas Hofer Gut und Leben geopfert hatte? Wie hätte sie anders vor seinem Andenken bestehen können ? Nicht zuletzt bewegte sie auch die Sorge um ihre Kinder. Sitten und Gebräuche der Großstadt waren ihrer eingeschlossenen Natur fremd geblieben und so drängte sie zu baldigem Aufbruch. Nach den Aufzeichnungen ihres Biographen Granichstaedten „blieb sie auch weiterhin trotz der hohen Ehrungen, namentlich durch die Verleihung des Adelstandes, immer die schlichte, einfache Schützenhauptmannswitwe und Wirtsfrau, welche in ihrer beschränkten Häuslichkeit still für sich fortlebte und den Mitbewohnern des Tales mit vollen Händen Wohltaten spendete."
Carl Friedrich Hock schildert im Herbst 1828, anlässlich eines Besuches auf dem Sandhof, die Witwe Andreas Hofers folgendermaßen: ,,Ja wenn ich sie nur recht treu und kräftig zeichnen könnte, die gute Frau Anna. Gutmütigkeit und Treuherzigkeit sind der Grundton ihres Charakters. Auf der Stirn der Witwe haben Gram und Sorgen tiefe Furchen gezogen und doch zeigt ein feiner Zug um die Lippen, dass dieses Gemüt nicht zu Trübsinn geschaffen, sondern zur Freude und Heiterkeit geboren war."
Anna Hof er erreichte ein hohes Alter. Mit ihrem in Fischamend lebenden Sohne stand sie laufend im Briefwechsel.
Das Unglück wollte es noch, dass alle vier Töchter ihr im Tode vorangingen. Anneli, das an schwärmerischem Ernst und herzhafter Entschlossenheit seinem großen Vater am ähnlichsten war, eilte aus Wien herbei, um die alte Mutter zu betreuen. In der Heimat angekommen, verschied das Mädchen unerwartet an einer fiebrigen Erkrankung. Das müde Herz der Sandwirtin verwand den Verlust des geliebten Kindes nicht. Am 6. Dezember 1836, eine Woche nach dem Tode Annelis, starb auch sie, zweiundsiebzig Jahre alt.
Wie jedem Tiroler die Erinnerung an Andreas Hofer teuer ist, so bleibt das Andenken an seine Ehefrau, Anna Ladurner, allen der höchsten Ehre wert; glich doch ihr Leben mit zunehmendem Alter den stillen Herbstabenden nach einem gewitterreichen Sommer.
Neben die geschichtliche Befreiungstat Andreas Hofers hatte sie ein Beispiel unvergänglichen inneren Heldentums gesetzt, den Sieg des fraulichen Herzens über die Not einer bitterharten Zeit.
So rückt das Bild dieser Magna Mater Tirols uns besonders nahe. Ehrfürchtig lesen wir auf dem Friedhof zu St. Leonhard die Grabinschrift, womit der Tiroler Dichter Bruder Willram die große Mutter des Landes ehrte. Sie lautet: „Ein starkmütig Weib, wer findet es? Ihr Wert ist Dingen gleich, die weither aus fernsten Fernen stammen!"
Rechtschreibung behutsam angepasst.
© digitale Version www.SAGEN.at, Wolfgang Morscher 2009.