LUDWIG STEUB - ALPENREISEN
BADEKUR IN TIROL
In Schalders
In Mehren
In Ultnerbad
Im Pustertal
Wenn man übrigens hört, daß in Tirol und Vorarlberg über
einhundertzwanzig Bäder sind und Zuspruch finden, so darf man letzteres
nicht allein den Kranken und Leidenden zuschreiben, sondern, wie schon
öfter angedeutet, ebensowohl einer Sitte, die das ganze Sommerleben
des Landes gestaltet, der Sitte nämlich, Haus und Hof in den heißen
Tälern auf einige Wochen zu verlassen und an einen kühleren
Ort in die Sommerfrische zu gehen. So streben denn alle, der Edelherr,
der Bürger und der Bauer, in die Höhe, in die reineren Lüfte
der Alpen. Die reichen Bozener hat dieses Streben veranlaßt, auf
der Hochebene des Rittens jene lustbarlichen Sommerstädte zu gründen,
die wir auch schon besucht haben. An ändern Orten weiß man
andere Freistätten, vielleicht ein eigenes Landhaus im Gebirge oder
eine Unterkunft bei gastlichen Verwandten oder auch bei einem ehrlichen
Bauer, der sich auf Sommerfrischler eingerichtet hat. Für alle ändern
aber, denen die Gelegenheit mangelt, in dieser Weise ihre Lust zu büßen,
sind die Bäder die herkömmlichen Sommerfrischen. Da genießt
der Landmann seine Ferien, und wenn er einmal aus dem Hause ist, wird
auch dem Knechte bald etwas fehlen, was ihn ins Bad treibt, und vielleicht
auch der Dirn und der Unterdirn. Deswegen ist die Armut in den tirolischen
Bädern ebenso zahlreich vertreten als der Reichtum, und drum gibt
es auch eigene Lotterbäder, nämlich Bäder für arme
Leute. Ein Bäuerlein, welches nicht einmal den Zutritt zu diesen
Anstalten erschwingen kann, verzichtet aber immer noch nicht auf seine
Sommerlust. Ein solches geht vielmehr in die Hochalpen, sucht die Heuschopfen
auf und legt sich da ins Heu. Es vergräbt sich tief in das weiche
Lager und gerät dabei in starken Schweiß, der unendlich heilsam
sein soll für bäuerliche Schäden, für Gicht und Gliederschmerzen.
Vor allem ändern Heu ist seiner Heilkraft wegen jenes auf dem hohen
Schiern ober Bozen berühmt, und wird deswegen auch manche Wallfahrt
nach diesem Berge angestellt. Man sagt von solchen Pilgern: sie gehen
"ins Heu liegen".
In Schalders
Unsere Gesellschaft war übrigens so zusammengesetzt, daß ihren
ersten und geistreichen Bestandteil ein junger Historiker aus der Stadt
Wien, den zweiten und dritten aber ein paar Fräulein aus dem deutschen
Reiche bildeten. Daß ich selber auch dabeigewesen, braucht wohl
nicht besonders hervorgehoben zu werden.
Also aus dem Waldesschatten tretend, sahen wir das Schalderer Bad vor
uns, zunächst das Wirtshaus, ein ziemlich großes, mit Schindeln
gedecktes Gebäude mit einem Uhrtürmchen und grünen Fensterläden.
Wir stiegen eine steinerne Freitreppe hinan und wurden freundlich aufgenommen.
Da es schon zwölf Uhr geschlagen, so war die Table d'hôte bereits
in vollem Laufe. Wir sputeten über die innere Stiege hinauf, um auch
noch recht zum Mahle zu kommen. Fräulein Laura, die noch nie eine
tirolische Badegesellschaft gesehen, war die erste, die den Speisesaal
betrat. Sie fuhr aber ganz betroffen zurück, drehte sich um und sagte:
"Das sind ja lauter Bauern!" - "Ja, das muß so sein", entgegnete
ich, "in den Tiroler Bädern ist's von jeher so gewesen."
Das Baden war, wie man weiß, im Mittelalter ein Hauptvergnügen
der deutschen Nation. Alle Welt, Männlein und Weiblein, Jungherren
und Fräulein, gingen wenigstens am Samstag in die öffentlichen
Badestuben, wo aber nicht allein die züchtigen Najaden, sondern auch
Herr Bacchus und Frau Venus ihr Lustlager aufgeschlagen hatten. Die Bauern
auf dem einfachen Lande sorgten für dieses Bedürfnis durch die
Ehaftbäder - ein bestimmter Einwohner und Hausherr im Orte mußte
ihnen jeden Samstag eine Badestube wärmen, und dafür begabten
sie ihn mit Weizengarben, mit Mehl und Brot oder Heu und Stroh. Diese
Ehaftbäder haben sich im Flachlande draußen ganz verloren.
Die Männer ziehen jetzt ein Schwimmbad im freien Flusse den Wannenbädern
weitaus vor; wie die ländlichen Schönen für ihre Reinlichkeit
sorgen, ist nicht näher bekannt. Im Land Tirol, wo das Wasser der
Ströme sehr reißend und eisig kalt ist, sind die Flußbäder
nie in Gebrauch gekommen. Das Volk hält dort mit gewohnter Treue
an seinen "Bädeln" fest, in denen eigentlich alle Stände zusprechen,
obwohl in den meisten zunächst nur der Bauer mit Weib und Kind, mit
seinen Knechten und Mägden vertreten ist. Viele dieser Gäste
kommen auch eingestandenermaßen nur "zum Abwaschen" und um sich
nebenbei einige gute Tage anzutun. - Es ist nicht unwahrscheinlich, daß
erst aus diesem Badeleben sich die tirolische Sommerfrische entwickelt
hat, indem die feineren Geister, die an jenem keinen Geschmack mehr fanden,
sich das Vergnügen, etliche Wochen in anderen Lüften zu leben,
auf andere Art zu schaffen suchten.
Vielleicht darf noch bemerkt werden, daß sich in solchen Anstalten
nie ein Badearzt findet, ein Umstand, der, wie einige behaupten, zum guten
Erfolg der Kuren wesentlich beitragen soll, und daß sich der tirolische
Landmann sein Wässerlein immer selbst auswählt, ohne je einen
ärztlichen Rat darüber einzuholen.
Die Table d'hôte war also im besten Zuge. Am langen Tische saßen
etwa fünfundzwanzig Bauern und Bäuerinnen, obenan etliche geistliche
Herren, unten einige Frauenzimmer aus Bozen. Die Unterhaltung war lebhaft,
doch nicht lärmend. Wie die gedruckte "Kundmachung", die der Badeherr
gerne abgibt, zu berichten weiß, ist die Schalderer Quelle von jeher
als "eines der vorzüglichsten Magenwasser" bekannt gewesen.
Dies scheint wohl auch die volle Wahrheit zu sein, und überdies scheint
das Wasser mit elektrischer Schnelligkeit zu wirken, denn die Ankömmlinge
sind hier schon nach dem ersten Trunk der Wunderquelle keine Patienten
mehr, sondern essen an der Table d'hôte alle mit jenem fabelhaften
Appetit, um den der Fremde die tirolischen Kurgäste so gern beneidet.
Man erzählt, daß Personen, die wegen ihrer Schwächlichkeit
hereingetragen wurden, am dritten Tage mit den ändern schon um die
Wette schmausten und nach vierzehn Tagen kugelrund davongingen.
Als die Table d'hôte beendet und das Dankgebet gesprochen war, verteilte
sich das Publikum und ging jedermänniglich seinem Zeitvertreibe nach.
Ein Lesezimmer ist hier nicht zu finden, auch nach einer Badebibliothek
würde man wohl vergeblich fragen. Zeitungen sind aber doch vorhanden,
zwar wenige, aber gute.
Damit nicht etwa, während der Leib durch die Kraft der Quelle von
alten bösen Säften gereinigt wird, sich der Geist mit neuen
Giften beschwere und so der eine zwar geheilt, der andere aber verpestet
werde, liegen hier nur die "Tiroler Stimmen" auf, das bischöfliche
Hofjournal und das "Tiroler Volksblatt", welches, wie man sagt, zu Bozen
herauskommen soll, das ich aber da zum ersten Male gesehen habe.
Beide Blätter waren, obgleich schon gestern eingeheftet, so lilienweiß
und unbefleckt, daß sie wohl noch keine Bauernhand berührt
hatte. Wer der Lektüre nicht ergeben ist, braucht sich aber deswegen
im Schalderer Bade nicht zu langweilen. Hier stehen Spielkarten, die allerdings
sehr schmutzig sind, dort eine kurze Kegelbahn zur Verfügung. Man
kartet um nichts oder um eine Kleinigkeit, schlägt aber in den Tisch
und schreit dabei, als wenn es um Dukaten ginge. Wer nicht spielen und
nicht Kegel schieben will, der setzt sich unter eine Laube von Waldreben,
welche neben der Kegelbahn ihren Schatten spendet. Dort finden sich die
Frauen gerne ein, namentlich des Nachmittags, um ihre Marende zu halten.
Auch die Andacht gewährt den Badegästen vielen Zeitvertreib.
In allen tirolischen Bädern wie in allen Schlössern und Ansitzen,
ja in allen größeren Privathäusern findet sich eine Hauskapelle.
Die geistlichen Herren, die eben die Kur gebrauchen, lesen da in der Frühe
ihre heiligen Messen, wie sie des Nachmittags auch ihre Vespern und Litaneien
halten. Beschauliche Naturen, die sich im Gebete nie genugtun, bleiben
oft stundenlang in der stillen Kapelle sitzen und unterhalten sich in
Ermangelung anderer Gesellschaft mit dem lieben Gott. Außer dem
Wirtshause, wenige Schritte weiter oben, da wo der Weg nach Sarntal geht,
findet sich ein anderes Bethäuslein, welches auch ein Dutzend Gäste
faßt. Das kunstlose Muttergottesbild, das da drinnen steht, versucht
sich neuerdings ebenfalls in Wundern und hat, wie die aufgehängten
Täfelchen zeigen, bereits zwei Füße und einen Arm kuriert.
Die vornehmste Stube in dem Wirtshaus ist das "Fürstenzimmer", welches
zunächst für die Prälaten von Neustift, für die Domherrn
von Brixen und andere höhere Würdenträger bereitgehalten
wird. Wenn es diese nicht in Anspruch nehmen, so wird es auch an andere
Gäste verliehen, und zwar mit seinen zwei Betten täglich um
sechzig Kreuzer. Es ist ohne Pracht, doch sehr behaglich eingerichtet.
Vor dem Hause vereinigen sich drei schäumende Bächlein, welche
eilig die steilen Halden herunterkommen, um den Schalderer Bach zu bilden.
Ihr vereinigtes Rauschen muß den Gästen als Morgenreveille,
Tafelmusik und Abendständchen gelten. Sie verleihen der Luft, die
durch das Tal weht, auch an heißen Sommertagen eine angenehme Frische.
Der Wald beginnt schon fast an der Haustür. Fichten, Lärchen
und Eschen reißen sich um die Ehre, den Kurgast zu beschatten.
Jenseits des Baches erhebt sich das neue Badhaus, ein zweistöckiges,
geräumiges Gebäude, welches unten die Badegemächer, oben
eine Reihe von annehmbaren Wohnzimmern enthält, welche um dreißig
Kreuzer täglich abgelassen werden. Es ist mit einer schönen
Altane geziert, welche eine liebliche Aussicht in das enge Tal, in nahes
Waldesdunkel, hinauf zum Dörflein mit seiner Kirche und seinen Bauernhäusern,
auch hinaus auf den Bergzug jenseits des Eisacks bietet.
Neben diesem Neubau wird als Altertum noch das frühere hölzerne,
jetzt sehr gebrechliche Badhaus, ein Muster alpinischer Einfachheit, erhalten.
Es ist aus rauhen Dielen und ungehobelten Balken kunstlos zusammengesetzt;
doch ist auch ihm ein Söller mit lieblicher Aussicht nicht versagt.
Die Kammern enthalten in jeder Ecke ein ärmliches Bett, täglich
zu zehn Kreuzern, und sind selbst am hohen Tag halb dunkel, da sie nur
durch ein kleines, viereckiges Loch ohne Fensterscheibe erhellt werden.
Die Einfachheit ist so weit getrieben, daß auch Waschtisch und Schrank
nur durch ihre Abwesenheit glänzen. Die beiden Badehäuser, das
alte und das neue, sind übrigens etwas lichtscheu ausgefallen, denn
sie stehen südlich so nahe an den waldigen Felsen, daß die
Sonne selbst zur Mittagszeit nur für kurze Weile in den grünen
Winkel hereinscheint.
Das Badevölklein ist so anspruchslos, daß je vier und fünf
Weiber, je fünf und sechs Männer in einer finsteren Kajüte
zusammen baden. Sie legen sich dann sittsam in die hölzernen Wannen
und werden mit hölzernen Deckeln bis an den Hals hin zugedeckt, so
daß nur der Kopf zu sehen ist, unterhalten sich aber auch in dieser
Lage so angenehm und flüssig, wie wenn sie im schmucksten Feiertagsgewand
auf der Kirchweihe beieinandersäßen.
Die Tiroler sind bekanntlich bajuwarischen Stammes und legen auch, wie
ihre Nachbarn gegen Mitternacht, ein großes Gewicht auf Essen und
Trinken, sind aber im übrigen so wenig verweichlicht, daß sie
die Unbequemlichkeit fast dem Komfort vorziehen. Daher auch ihre Vorliebe
für schmale Bänke, kurze Betten und niedrige Türen, an
denen sich jeder Unbewanderte den Kopf anstößt. So wohnen auch
die Schalderer Badegäste, wie oben bemerkt, zu drei und vier in einem
Zimmer, jeder geht zu Bett, jeder steht auf, wann er will, jeder schnarcht,
soviel ihm behagt, ohne daß sich die anderen dadurch beschwert finden.
Früher pflegte übrigens jeder Gast sein Bett selbst mitzubringen,
wie denn auch jetzt noch die Innsbrucker Honoratioren, wenn sie in die
Sommerfrische gehen, den nötigen Hausrat selbst auf die Berge schleppen
lassen, da die Bauernhäuser nur die leeren Stuben bieten.
Die Preise sind in Schalders anerkanntermaßen noch sehr billig und
dürfen auch nicht erhöht werden, wenn der Zugang nicht wesentlich
leiden soll. "Die minderen Leute", das heißt die Armen, erfreuen
sich hier derselben Nachsicht und Duldung wie in den anderen tirolischen
Bädern. Sie bringen ihre Nahrungsmittel wie ihre Geschirre selber
mit und kochen an einem eigenen Herde gegen eine geringe Vergütung
für das Brennholz.
In Mehren
Hinter Lahneck also liegt das Dörflein Mehren, mit einer kleinen
Kirche und einem roten Spitzturm, der fast so hoch aufstrebt wie jener
zu Brixlegg. Auch dieses Mehren will ein "Löwe" werden, und in der
Tat, wenn es jedes Jahr einen solchen Sprung macht, wie vom vorigen Sommer
bis zu diesem, so mag es sich immerhin eine sehr gedeihliche Zukunft versprechen.
Es ist ein Wässerlein, eine Quelle, was diesen Aufschwung herbeigeführt
hat, eine Quelle, welche, figürlich gesprochen, jetzt schon einigen
Goldsand zu führen beginnt. Über die Zeit ihrer Auffindung,
ihr bisheriges Geschick, ihre hygienischen Kräfte und über das
glückliche Sonntagskind, das der Najade zuerst ihre geheimen Tugenden
angesehen, habe ich nichts Genügendes erfahren können, denn
die gedruckte Beschreibung, die darüber Auskunft erteilt, ist längst
vergriffen, obgleich man über 1500 Exemplare ausgegeben hat. Voriges
Jahr waren nur vier enge unansehnliche Kajütchen zur Verfügung.
Seitdem ist aber ein langer Korridor mit sechzehn neuen Badezimmern, erster
und zweiter Klasse, entstanden, überdies eine "Restauration", ein
Stüblein, wo man sich des Wartens Langeweile durch ein Glas Wein
ermäßigen kann. Alle diese Neubauten sind übrigens ziemlich
kunstlos aus Holz hergestellt. An der Wand hängt auch ein halber
Bogen Papier, welcher eine einfache und kurzgefaßte Badeordnung
enthält, zur Zeit noch mit gewöhnlichen, auch sehr kunstlosen
Bauernbuchstaben geschrieben. Nach verschiedenen gesetzlichen Bestimmungen,
welche von Schicklichkeitsgefühl und Klugheit zeugen, findet sich
am Schlüsse auch der Satz: "Alle Sonntag kommt der Rasierer." Es
wird manchem tröstlich sein zu vernehmen, daß man hier doch
nicht alle Tage vom Bartscherer gequält wird.
Wer seine Gebresten in Gastein oder Karlsbad, in Wiesbaden, Ems oder Baden-Baden
zu heilen gewohnt ist, der macht sich schwerlich ein richtiges Bild von
der schlichten Bäuerlichkeit dieser tirolischen "Badeln". Mit achtzig
Kreuzern des Tages kommt der Gast schon ganz leidlich durch; wer einen
Gulden zu verzehren hat, wird bereits zu den Honoratioren gezählt
und mit besonderen Ehren ausgezeichnet.
In Ultnerbad
Ultnerbad ist das besuchteste in Deutschtirol und zählte zum Beispiel
im Jahre 1842 gegen achtzehnhundert Gäste. Das Wasser ist eisenhaltig
und oft von wunderbarer Wirkung. Des Bades Aussehen ist sehr anspruchslos;
ein einstöckiges, gemauertes Gebäude, in dessen Erdgeschoß
der Speisesaal; das Hinterhaus von Holz. Neben dem Badehaus steht ein
anderes, worin nachmittags Kaffee getrunken, abends getanzt wird; nicht
weit davon die Kapelle, belebt von Messen, Vespern und Rosenkränzen,
welche die geistlichen Gäste hier abhalten. Als Spaziergang dient
die kleine Terrasse vor der Anstalt, die freilich nur für die Schwachen
und Siechen ausreicht. Rasche, kräftige Jugend muß sich Bewegung
in den Bergen suchen, die von allen Seiten aufragen.
Es ist erstaunlich, was manche dieser Kurorte für reizlose Lagen
haben! Die des Ultnerbades ist die Unschöne selbst - ein schmales
Gereute in einem engen Waldtobel, keine Aussicht als auf rote Wände,
mageren Forst und einen mäßigen Fleck des blauen Himmels. Nur
weit drüben und hoch oben sieht man Kornfelder und aus schwarzen
Fichten einen weißen Kirchenturm spitzen, St. Helena, wo ein Exposirus
wohnt, hoch über den Pomeranzen der Etsch, weswegen auch, wie der
Ultner Wirt witzelte, nur ein solcher hinaufgestellt wird, der diese Frucht
nicht besonders liebt. So gehen die Leute aus dem Zauber des Etschlandes,
aus dem herrlichen Nonsberg, gleichsam auf vierzig Tage in die Wüste,
um ihr Auge zu kasteien für die sündliche Lust, die es das ganze
Jahr an der Schönheit der Natur genossen. Billigerweise lassen sie
den Magen nichts entgelten, denn die Ultnertafel ist fast noch reichlicher
besetzt als die ändern Badetische in Tirol.
Die Gesellschaft ist sehr bunt; doch halten sich die Stände genau
auseinander. Im vorderen Gebäude wohnen "die bessern Leute", im hölzernen
Hinterhause die "mindern". Die bessern Leute deutschen Stammes betrachten
die Kurzeit als Landaufenthalt und erscheinen in sehr schlichter Äußerlichkeit,
abstechend von den welschen Gästen, die in makelloser Eleganz und
Vornehmheit einherziehen. Ihre Wohnungen sind hölzerne Verschlage,
enger als Klosterzellen, bloß zum Schlafen eingerichtet. Um zu schreiben
und lesen kommt ohnedem niemand ins Ultnerbad. Freilich behauptet man,
der Wirt habe seinerzeit eine ganz hübsche Bibliothek gehabt, aber
die Geistlichen hätten ihm allmählich seine besten Bücher
ausgeführt, weil sie sie für sündhaft erachteten und selber
lesen wollten. Zarte, blaustrumpfige Teezirkel, Vorlesungen shakespearischer
Schauspiele in Tiecks Manier, geistreiche Erörterungen über
Kunst und Literatur, derlei exotische Genüsse wird man in Ulten vergebens
suchen - dafür findet man aber andere sehr ausgiebige Unterhaltungen.
Es ist in der Tat fast wunderbar, daß Fröhlichkeit und Lebenslust,
die man unten im heitern Tale bei den Gesunden ganz unterbunden, abgetrieben
und ausgetrocknet, daß diese da oben in dem finstern Bergloche unter
den Kranken und Todesnahen erhalten worden sind. Hier im Ultnerbade wird
nicht allein von den böhmischen Musikanten, die alljährlich
sich einfinden, Tafelmusik aufgespielt, sondern des Abends auch zum Tanze
und nicht etwa auf einen Dreher oder zwei, sondern gleich bis nach Mitternacht;
ja, wenn unternehmende Jugend beisammen ist, geht's oft schon wieder am
Morgen hinüber in den Ballsaal.
Hierher kommen ebenso viele Leute, jung und alt, die frisch und gesund
sind, allein von guter Luft, Kurzweil und Ergötzlichkeit wegen, nur
daß mancher ältere Gast jetzt ungern die fahrenden Fräulein
aus Welschland vermißt, die noch vor wenigen Jahren ganz allein
und eigens übers Gebirge stiegen, um mit den frommen Deutschen im
Mitterbade der edlen Minne zu spielen.
Wandern wir nun durch das mittlere Gebäude, das den Wohnort der bessern
Leute mit dem der mindern verbindet, so finden wir zu ebener Erde die
Gemeinbäder der letztern, wo in geräumigen Verschlagen die beiden
Geschlechter getrennt sind. Da geht in großer Eile und Geschäftigkeit
der Chirurg von St. Pankraz umher und appliziert Aderlässe, Schröpfköpfe
und Blutegel. Da sah ich zuerst ein Nonsberger Kindlein, das in einem
winzigen Wännchen lag, während die Mutter italienische Wiegenlieder
in seine Ohren summte, wobei die vorübergehende Bademagd murrend
schalt: "Dem Kindlein da ist das Wasser auch viel zu stark, und die Mutter
gibt keine Ruhe, bis es zu Tod gebadet." Ultnerwasser ist nämlich
keines, mit dem man spielen darf. Wenn die Leute in die Wannen gestiegen,
werden die Türen der Verschlage geöffnet und den Besuchern Zutritt
gestattet. Da liegen sie dann alle reihenweise zugedeckt in ihren Särgen,
während ihnen zu Häupten die Befreundeten sitzen. Die deutschen
Landleute benehmen sich auch in dieser Lage sehr ruhig, die italienischen
Weiber verursachen dagegen großen Lärm, und wenn eine aus ihrer
Wanne heraus ein kräftiges Witzwort entsendet, so erhebt sich ein
sinnverwirrendes Gelächter. Es ist ziemlich dunkel in diesen Räumen.
Aus den Ritzen einer Nebenkammer schimmerte Licht; plötzlich sprang
die Türe auf und drinnen zeigte sich, zauberhaft beleuchtet von der
kleinen Lampe, ein bildschönes, halb enthülltes Landmädchen.
Mir fielen die Augen zu bei diesem verbotenen Anblick - unter einem Schrei
schnappte auch das Pförtchen ein, und ich suchte erschreckt den Ausweg
aus dem nicht geheuern Orte. Ich kam in einen langen Gang, auf den die
Wohnzimmer der mindern Gäste herausgehen. Auch hier sind untertags,
da die winzigen Fensterlücken wenig Licht gewähren, die Türen
offen. Da sieht man manche arme Seele, die gewiß nicht der Sommerlust
wegen sich hierhergeschleppt - etliche sitzen vor den Schwellen, um die
frische Luft zu atmen, andere liegen totenbleich, grabgerecht in den Betten.
So muß sich zuweilen ein frommer Badegast auf den Tod bereiten,
während die böhmischen Walzer lebenslustig in sein Sterbekämmerlein
schallen. Ein junges Mädchen aus Salurn war da schon in der sechsten
Woche gliederkrank, konnte sich nicht rühren, lag aber freundlich
und geduldig auf ihrem Ruhebett. Eine Bauernmaid, deren Teilnahme sie
gewonnen, saß bei ihr und las aus der Legende vor. Ich machte auch
meinen Krankenbesuch und stillte gerne die Neugier, wo ich denn zu Hause
sei. Pater Florin, der greise, milde Kapuziner aus Lana, löste mich
bei ihr ab. Darauf stieg ich wieder in den lebhaften Hof hinunter. Ein
alter, ärmlicher Bauersmann mit schneeweißen Haaren lag dort
auf einem Sack an der Sonne, todesmüde. Erschloß die Augen
- ich glaubte für immer -, doch erwachte er an meinen Schritten,
blickte mich an und lispelte: "Wo bleiben Sie?" Neben dem alten Bauern
saß regungslos ein junger, verwelkten Ansehens, stille Entsagung
im Gesichte. Auf seinen grünen Hosenträger war ein rotes Herz
gestickt, das ein Pfeil durchbohrte. Sollte das etwas zu bedeuten haben?
Solche bedauernswerte Gestalten sah ich noch mehrere, jedenfalls genug,
um bestätigt zu finden, daß nicht jeder Mensch im Gebirgslande
ein Riese an Körperbau und Kräften sei.
Diese Behauptung ließ sich weiter belegen aus den Erscheinungen
hinten im hölzernen Hause, wo die mindern Leute Mittag- und Abendmahl
halten und in den Zwischenzeiten etwa ein Gläschen trinken. Gleichwohl
besteht selbst da eine bedeutende Minderheit aus Gästen, die das
Wasser nur so nebenbei gebrauchen.
Die Bewohner dieses Hinterhauses leben sehr einfach und prunklos. Es ist
angenehm zu bemerken, wie ihrem sparsamen Treiben auch von der Wirtschaft
nichts in den Weg gelegt wird, wie die Preise selbst sehr billig sind
und wie ihnen alle Listen nachgesehen werden, mit denen sie des Wirtes
Vorteil zu umgehen suchen. So bringen die meisten ihre Mundvorräte
selber mit, und nicht allein diese, sondern auch die Geschirre, um sie
zu kochen. Gleichwohl sind die Kellnerinnen, die hier walten, nicht minder
artig und dienstbeflissen als die im Vorderhause und geben den armen,
kranken Leuten zu ihrer Not noch manches gute Wort und manchen unbezahlten
Zuspruch. Es wird hier, wie in ändern tirolischen Bädern, jeden
braven Mann die Wahrnehmung erfreuen, daß der Wirt nicht an den
Dürstigen reich werden will, daß alle Spekulation auf den Pfennig
des Armen ferngehalten ist. Betrachtet man nun noch die liebevolle Aufnahme
und Pflege, so erscheinen diese Anstalten im Lichte jener frommen alten
Stiftungen, die zum Besten der leidenden Menschheit gegründet worden,
und stechen so in ihrer schlichten Volkstümlichkeit recht wohltuend
ab von jenen vornehmen Luxusbädern am Rhein, wo man französische
Gauner ihre grünen Tische aufschlagen und die lieben deutschen Landsleute
ausziehen läßt.
Im Pustertal
Im Pustertal hat jedes Dorf wenigstens ein Bad, und dazu kommen noch eine
Menge Interkalar-Bäder, welche auf freiem Felde zwischen die Dörfer
eingeschaltet sind, zahlreiche Anstalten von jeder Gattung, vom entschiedensten
Bettlerbädlein, wo sich der Gast des Tages mit einem halben Gulden
fortbringt, bis zum bürgerlich gemächlichen, aber immer noch
einfachen Kurort - denn eigentliche Luxusbäder sind, wie schon öfter
gerühmt, im Land der Tiroler nicht zu finden. Unter all den pustertalischen
Bädern ist aber Maistatt das vornehmste, sowohl seines Wassers wegen
als auch weil Kaiser Max Anno 1511, da er mit den Venezianern Krieg führte,
sich einige Zeit daselbst aufgehalten hat.
Unglückliche Etymologen sind daher auf die Idee verfallen, von seiner,
des Kaisers, Majestät auch den Namen Maistatt abzuleiten, allein
die ernstere Forschung hat diese Erklärung längst zurückgewiesen,
da das Bad unter jenem Namen schon viel früher vorkommt, als Kaiser
Max dort sein fröhliches Hauptquartier aufschlug.
In der Nähe von Niederdorf gegen Welsberg hin geht das Pragser Tal
auf, welches sich bald gabelt und in zwei Äste auseinanderläuft.
Der eine heißt Innerprags, der andere Altprags. In letzterem liegt
das berühmte Pragser Bad. Um auch dieses zu besehen, ging ich nach
Tische allein von Niederdorf fort, überstieg ein sanft anschwellendes
Vorgebirge, sah von oben herunter in ein grünes Tal mit vielen Höfen
und einer Kirche, ging dann geradeaus gegen Süden und erreichte etwa
nach anderthalb Stunden das Pragser Bad.
Zu dem Gebäude, das auf einer steilen Anhöhe steht, führt
eine äußerste einfache Avenue. Blumenbeete, Boskette, Statuen,
Springbrunnen und dergleichen Zierden, welche anderswo Hygienas Tempel
schmücken - sie werden hier in das große Kapitel sündhafter
Augenlust gestellt und ängstlich vermieden. Wenn man dem Badehause
näher kommt, sieht man rechts einen Misthaufen unter Dach, links
ein Gärtchen mit Sonnenblumen und Kabiskraut, ferner eine schlichte
Kegelbahn und zwei schlichte Brunnen. Statt eines Trosses aufdringlicher
Kellner kamen mir nur etliche zurückhaltende Gänse entgegen,
die letzten ihrer Art, welche auf dem mageren Wiesenplatze vor dem Hause
ihr Futter suchten. An einem zerbrochenen Gestelle hängt hoch über
der Türe eine Glocke, welche mit einem Bindfaden gezogen wird, um
den süßen Augenblick zu betonen, der den Kurgast zu Tische
ruft. Von der Türe bis zur Ecke des Gebäudes spannt sich eine
lange hölzerne Bank, wo in bunter Reihe die Milchschüsseln sich
sonnen und die Badegäste.
Wenn man auch schon viele Tiroler Thermen gesehen hat, so überrascht
das berühmte Bad zu Prags doch immerhin noch durch seine Einfachheit.
Im alten Bau - denn jetzt ist anstoßend auch ein neuer aufgeführt
- finden sich noch, wie aus Albrecht Dürers Zeiten, runde, mit Blei
eingelegte Fensterchen. Da ist auch noch die alte Zechstube -Speisesaal
würde man jetzt sagen - mit ihrer alten tirolischen Täfelung
aus Zirbenholz. Ein großer geweißter Ofen, viereckig, mit
einem kegelförmigen Aufsatz, verstärkt den altertümlichen
Duft des Gemaches. Eine Schwarzwälder Uhr tickt leise, vielmehr unhörbar,
in dem angeregten Gespräche, das zu allen Zeiten durch die dämmernde
Halle rauscht. Als Hausrat stehen einige Tische in dem Raum und zahlreiche
Sessel der verschiedensten Gestalt, die aus zwanzig verschiedenen Versteigerungen
zusammengekauft scheinen. An den Wänden zeigt sich die Geschichte
der Heiligen Genoveva und sonst noch ein paar fromme Groschenbilder. Auch
zwei Gemskrückeln stechen fast anmaßend in den Luftraum herein;
das eine trägt einen Stiefelzieher, das andere eine Stallaterne.
Übrigens sind die Gäste sichtlich alle in der besten Laune.
Die tapferen Männer sitzen beim Kartenspiel und hauen dabei mit Heldenfäusten
in den Tisch; die züchtigen Weiber nähen, flicken und stricken.
Außer diesem Salon für die niedern Leute ist jetzt ein neuer
für die herrischen entstanden. Auch bei seiner Ausstattung ist zwar
jeder überflüssige Pomp mit Ängstlichkeit vermieden worden,
aber doch zeigt er einige Fotografien und selbst die Bildnisse der Apostel.
Nicht minder überraschend als die Einfachheit ist aber wirklich die
Billigkeit. Ein herrisches Zimmer mit Bett, Tisch und Stuhl kostet täglich
zweiundzwanzig Neukreuzer, für die bäuerischen, "deren Möblierung
aber kaum den Luxus eines Gefängnisses erreicht", denn es fehlt ihnen
Tisch wie Stuhl, werden täglich nur zehn Kreuzer erhoben.
Die Badekammern, deren Türen alle dunkelrot angestrichen und mit
einem großen J. H. S. geschmückt sind, teilen sich in
einschichtige und gesellige. Letztere sind feuchte Räume, vom Tageslicht
nur schwach erhellt, und enthalten ein Dutzend Wannen, die allenfalls
durch Teppiche oder Bettücher voneinander geschieden sind. Ein solches
Bad kostet zehn Kreuzer. Für ein Luxusbad in eigenem Zimmer hat der
Badende achtzehn Kreuzer zu entrichten und genießt für die
Mehrauslage als Komfort einen Stuhl und einen in die Wand geschlagenen
Nagel. Über all den Unbequemlichkeiten aber, denen der Gast hier
nicht entgehen kann, schwebt wie ein versöhnender Engel die Pragser
Küche, vielmehr die Köchin, welche ungemein liebreich, mild
und freigebig ist. Sie bietet vom frühen Morgen an Suppe, Knödel,
Würstlein, Schöpsenes, Schweinernes und dann zu Mittag und abends
die regelmäßigen Mahlzeiten dar, deren Tragweite um so mehr
überrascht, als wirklich schwer zu begreifen ist, wie diese leidenden,
kranken Menschen nach all den gastronomischen Übungen der freien
Zwischenzeiten noch die volle Tatkraft für die beiden großen
Epochen des Tages erübrigen können.
Das Publikum ist wie in all diesen Bädern sehr gemischt. Es reicht
vom Hof- und Geheimrat herunter bis zur Bauernmagd und zum Taglöhner.