LUDWIG STEUB - ALPENREISEN
BAHNHOFSABENTEUER
In Holzkirchen
In Prien
In Holzkirchen
Wer etwa am 13. August zu Holzkirchen auf dem Bahnhof war, der wird sich
noch lange erinnern, wie es damals bald nach Mittag zuging. Daß
das reisende Publikum den Gedanken nicht los wird: es seien alle Beförderungsanstalten
nur seinetwegen da! Daher das viele Schimpfen und "Aufbegehren", welches
den guten Sitten so zuwider ist und mitunter sogar den Respekt gegen Kondukteure
und Bahnbeamte verletzt - während der Pilger jene Institute doch
eigentlich als eine Gottesgabe, als ein himmlisches Gnadenbrot erachten
sollte, für welches seine Fahrtaxen nur als eine Art Stolgebühren
wie bei Kindstaufen und Hochzeiten erscheinen, wobei alles Räsonieren
wegen mangelhafter Verrichtung gänzlich ausgeschlossen ist.
Hundert Menschen also sprangen damals aus den Wagen und stürzten
dahin, um die hintere Front des Bahnhofs zu gewinnen, wo das ehrsame Holzkirchen
sich darstellte und die blauen Alpen, leider aher nur vier oder fünf
Stellwagen. Über letzteres verdüstert, griffen manche sogleich
zum Wanderstab, der sie wenigstens bis zu Holzkirchens Sommerkellern geleitet
haben mag, die ändern aber warfen sich zurück und auf eine kleine
Schießscharte im Bahnhof, die dem Publikum einen vielbeschäftigten
Mann im blauen Rock bis zum Kinn hinauf sichtbar werden ließ, der
die Billette für die Stellwagen langsam austeilte. Und da entstand
ein Gedränge, welches man wegen der mancherlei dabei beteiligten
Damen und bei der jetzigen Bildung der Touristen fast erstaunlich nennen
konnte, denn sie haben sich, um mit Kobell zu reden, "die schönste
Sottise gesacht".
Doch die Miesbacher und die Schlierseer kamen glücklich davon in
ihrer gelben Arche, aber wir Tegernseer stritten zu dreißig sehr
höflich um Einlaß in einen schmalen Kasten, der kaum ein halb
Dutzend fassen konnte. "Man lasse Wagen kommen aus dem Markt!" herrschte
sofort eine Stimme in blauem Rock, die dieser Not ein Ende machen wollte.
Sehr traurig ist es aber, daß der Markt nicht da steht, wo man den
Bahnhof hingebaut, und daß der Tag so heiß war; denn als man
nach einer halben Stunde nachfragte, hatte es wegen der tropischen Hitze
niemand gewagt, in den Flecken hineinzutraben, und über die Wagen
war gar keine Kundschaft einzuziehen.
Denkende Reisende finden aber leicht einen Trost im Ungemach, und so setzten
sich ihrer drei zum Tarock zusammen, spielten zwanzig Solchen "ohne Fragen",
ehrlich und wohlgemut, bis endlich zwei Vehikel da- herschaukelten, eng,
aber doch gemütlich, welche sich entschuldigten, daß die Pferde
auf dem Feld gewesen und die Knechte nicht daheim - worauf sich dann die
braven Landfahrer nach anderthalb Stunden mit lächelndem Brummen
in diesen Gehäusen verloren. "Bei uns", sagte ein Stuttgarter - und
sein schwäbischer Dialekt ließ seine Reden noch fremdartiger
klingen-, "weiß man bei gutem Wetter immer, daß mehr Leute
kommen, und da tat' man den Posthalter zwingen, daß er lieber einen
Wagen zuviel schickt als zuwenig - und wenn einer leer bleibt, so kann
er'n wieder heimführen." Neues Beispiel von der tiefen Kluft zwischen
den deutschen Stämmen! Diese grausame Energie der Schwaben gegen
die Herren vom Dienst, und dabei der unwürdige Servilismus gegen
das Publikum! Wie ganz anders ist das bei uns! Einen bayerischen Posthalter
zwingen - mich überlief es kalt!
In Prien
Der Bahnhof zu Prien hat übrigens eine etwas schalkhafte Natur, vor
der wir warnen zu dürfen glauben. Freundlich lassen die Leiter des
Zugs die harmlosen Fremdlinge aussteigen und rufen ihnen traulich zu:
"Erquicket und labet euch!" Mitunter aber setzt sich ohne ein Zeichen,
einen Ruf oder Pfiff die Maschine plötzlich in Bewegung und enteilt
mit dem Zug, noch lange verfolgt von den Wehrufen und Verwünschungen
derer, die sie zurückgelassen. Wer erinnert sich nicht an den melancholischen
Fall, als am 12. Mai vergangenen Jahres auch zwei angesehene Herren aus
Tirol zur Stelle waren, ein geistlicher und ein weltlicher, vielleicht
gar ein Reichsrat, welche sich in die nächste Nähe zerstreut
hatten und plötzlich mit peinlicher Überraschung die Lokomotive
ohne allen Abschiedsgruß davonjagen sahen. Der eine Herr, der weltliche,
sprang zwar noch auf Leben und Tod in einen Packwagen hinein, der andere,
der geistliche, welcher sparsamerweise von seinen beiden Beinen weder
das linke noch das rechte riskieren wollte, blieb zurück, machte
noch eine sprechende Gebärde und begab sich dann, aufrechterhalten
durch die Tröstungen der Philosophie, ins Wirtshaus, wo er nicht
weniger von der Freundlichkeit der Bedienung als von der Bildung der dort
versammelten Honoratioren überrascht war. Teilnahmsvoll sagten ihm
die Eingebornen, daß sie an den Anblick Zurückgebliebener schon
gewöhnt seien, da dieses unabwendbare Mißgeschick nicht gar
selten hereinbreche.
Und auch am 23. Juli soeben, als ich in dritter Klasse fuhr, da ich wie
Herzog Ludwig zu Giengen "unter meinem Volk" sein wollte und vor der geschlossenen
Wagentüre stand, ging der Zug urplötzlich unter meinen Händen
davon, so daß der nächstgelegene Kondukteur nicht einmal die
Türe mehr öffnen, sondern mir nur zuschreien konnte, mich zu
retten, wie ich könne. Worauf ich denn nachlaufend noch zufällig
ein anderes Pförtchen offen und dort auch den besagten Kondukteur
wiederfand, welcher mir auf die Bemerkung, daß ich mich diesmal
über solche Manier gleichwohl beschweren werde, den freundlichen
Rat erteilte: ich solle lieber der Vorsehung danken, daß ich nach
allem diesem noch meine geraden Glieder habe.
Wünschenswert wäre es aber gleichwohl, daß eine Methode
erdacht würde, um künftig auch auf der Station zu Prien (nach
einigen, aber wenigen der Hauptsitz der alten Horazischen Breuni oder
der Breonenser) eine halbe Minute vor Abgang ein Warnungszeichen zu geben
- eine Rücksicht, welche, wenn auch nicht die Einheimischen, so doch
die fremden Reisenden zu verdienen scheinen.