LUDWIG STEUB - ALPENREISEN
DIE VERRÜCKTEN DOLOMITEN
Das sind wohl die verrücktesten Linien, die man in der Alpen weit
sehen kann. Niemand begreift, warum diese welschen Berge das löbliche
Herkommen und ehrenhaft solide Aussehen ihrer deutschen Brüder so
vollkommen aufgegeben, sich so absonderlich und ungebärdig gestaltet
haben. Es erscheinen da, wie am Monte Cristallo, Zungen, Stangen, Spitzen,
Nägel und neben diesen schmächtigen Figuren auch wieder ungeheure,
dicke, schwerfällige Massen von furchtbarer Höhe. Eine davon
sieht einem Pferde mit abgehauenem Kopfe so ähnlich, daß ich
vermutete, in der Nähe möchten sich auch die vier schlanken
Beine finden, auf denen der Koloß ruht, aber leider stand ein anderer
Berg davor. Ich war neugierig, wer diese Potentaten seien, und fragte
die Jungen und die Mädchen nach deren Namen, allein die Ampezzaner
kümmern sich um die Berge, die außer ihrer Pfarre liegen, ebensowenig
als die Deutschtiroler. Wer kein Vieh auf der Alm hat, fragt nie nach
Alpennamen. Am liebsten hätte ich erfahren, wie jener wunderliche,
kopflose Gaul sich nenne, allein die jungen Leute rieten hin und her,
ohne etwas Gewisses behaupten zu wollen. Endlich kam eine Alte dazu, welche
mit Entschiedenheit versicherte, es sei der Becco di mezzodi -
zu deutsch der Mittagsbock. Diesen Namen fand ich auch wirklich auf meiner
Karte verzeichnet. Jedenfalls bezeugt derselbe, daß auch die Vorfahren
schon die seltsame Gestalt des Berges mit einem Vierfüßler
verglichen haben. Zur linken Hand steht die mächtige, zuerst 1863
von Paul Grohmann erstiegene Pyramide des Antelao, deren Spitze sich mehr
als 10000 Fuß über das Meer erhebt, rechts der ungeheure Stock
der Tofana. Alle diese Dolomiten sind kahl bis auf die niederen Vorberge
herab - an ihren schauerlichen Wänden scheint sich keine Jochaurikel,
keine Edelraute halten zu können.
Bekannt ist übrigens, daß die Dolomiten ihren Namen von dem
französischen Geologen Dolomieu (+ 1802) erhalten haben. Früher
glaubte man, sie seien einmal vor langer Zeit glühend aus dem Erdboden
geschossen und allmählich erkaltet; jetzt hat man gefunden, daß
sie eigentlich zu den sedimentären Gebirgsarten gehören und
sich vom Kalkstein nur durch ihren Gehalt an Magnesia unterscheiden.
Hochachtung und Verwunderung hat diesen seltsamen Gestalten noch kein
Passagier versagt, aber es fehlt ihnen doch etwas Erhebliches, nämlich
die Gabe, unsere Sehnsucht zu erwecken und uns zu sich hinzuziehen. Wer
so den Mittagsbock betrachtet, dem fällt schwerlich die Frage ein:
Wie mag es wohl dort hinten sein?, weil er vorher schon überzeugt
ist, daß es dorthinten gerade so ist als da vorn - daß dort
geradeso unbegreifliche, wild durcheinandergeworfene Ungetüme zu
finden sind wie in seiner nächsten Nähe. Die grünen germanischen
Berge in ihrer ruhigen Folge, mit ihren mannigfachen Taleinschnitten,
die hier fast gänzlich fehlen, mit den reichen Gewässern, den
hellen Wiesen und dunklen Wäldern, den weißen Häuschen,
Höfen und Alpendörfern, mit ihren Kirchen und Burgen, geben
eigentlich viel mehr zu schauen und wecken dadurch auch eine Fülle
poetischer Ideen. Wie lieblich, wie schön muß es dort oben
sein auf der grasigen Breite, wo das Bauernhaus mit seinen spiegelnden
Fenstern winkt, wo das weiße Kirchlein, wo die grauen Türme
stehen! Den welschen Dolomiten fehlt das gedankenreiche Gewand, in das
sich die deutschen Berge hüllen.