LUDWIG STEUB - ALPENREISEN
NIT INS ENGADIN
So gelangten wir nach Finstermünz, traten müde in die Zechstube
und gewahrten den hochbejahrten Wirt, den wir für sehr weise hielten.
Es schlug also einer vor, man solle ihn um sein Gutachten bitten und bei
dem bleiben, was er sage. Sein Gutachten aber lautete einfach: "Nit ins
Engadin." Darauf hob einer an und fragte: "Warum denn nicht?" Wogegen
jener ebenfalls wieder sagte: "Nit ins Engadin." Alle, die dafür
waren, brachten ihre Gründe vor, er wies sie aber alle zurück
mit den Worten: "Nit ins Engadin." Was auch gesagt und gefragt werden
mochte, der greise Wirt schüttelte nur immer milde lächelnd
das Haupt und sprach: "Ich sage nichts als: nit ins Engadin." Diese ruhigen
Worte mit ihrem düstern Hintergrunde machten großen Eindruck
auf die ratschlagenden Gefährten. Zuletzt wurde dem Wormserjoch der
Vorzug gegeben und der Besuch des unheimlichen Engadins auf bessere Zeiten
verspart.
Das Engadin ist in dieser Gegend wirklich ein wenig verrufen. Der erbärmliche
Zustand der Wege und der Wirtshäuser, der ketzerische Glaube, die
fremde Sprache und der verschlossene Sinn der Bewohner hat den Leumund
dieses Berglandes bei seinen deutschen katholischen Nachbarn so getrübt,
daß auch die vielen Tiroler, die sich jährlich zur Heuernte
hinein verdingen und der ehrenhaftesten Behandlung gewürdigt werden,
bisher nur wenig für die Herstellung seines Rufes tun konnten. Man
steht einander kalt und ablehnend gegenüber. Der alte Wirt, zum Beispiel,
hatte sich in seinem langen Leben noch nicht die Zeit genommen, die Engadiner
"Linguaig" zu lernen, sondern wies uns, als wir darüber Auskunft
suchten, an die Kellnerin. Auch diese schien ihre sprachlichen Studien
nicht übereilt zu haben und wußte, obwohl ein Mädchen
in ihren Zwanzigern, nicht viel mehr als die Zahlwörter. Ein ähnliches
Verhältnis findet übrigens auf der ganzen Sprachgrenze statt.
Der Deutsche, der dem Welschen in Körpergestalt und Stärke überlegen
ist, lebt und kleidet sich im Durchschnitt besser und hat so schon äußerlich
mehr Ansehen als dieser sein Nachbar. Zwar tut sich letzterer durch feinere
Manieren und größere Weitläufigkeit hervor, aber seine
Schlauheit nützt ihm hierzulande nicht wesentlich, denn wenn der
deutsche Tiroler nur etwas Übung hat, so nimmt er's darin gern mit
jedem auf, und gewisse Arten, wie zum Beispiel die Viehhändler, werden
gar bald hieb- und stichfest. Der deutsche Bauer glaubt daher Gründe
genug zu finden, um mit Stolz auf den Welschen herabzusehen, und Ausländerei,
Liebe zum Fremden, Geringschätzung des Vaterländischen, sonst
der Fehler gesamter deutscher Nation, ist ihm gewiß nicht vorzuwerfen.
Auf dem ganzen Saume, wo deutsehe und romanische Sprache zusammenstößt,
die große Landstraße von Bozen gen Trient abgerechnet, liegen
daher die beiden Elemente streng geschieden aneinander, wobei es denn
der Deutsche immer lieber dem Welschen überläßt, Deutsch
zu lernen, als daß er selber Welsch lernte.