LUDWIG STEUB - ALPENREISEN
DIE GLETSCHERREISE
Nicodemus Klotz von Rofen ist ein Vierziger, eher klein als groß,
ledig, ernsthaft, aber doch kein Feind des Scherzes. Er trägt einen
spitzen Hut, die braune Jacke und die braunen dicken Strümpfe, die
Tracht der Ötztaler, und dabei spricht er ein altertümelndes,
wenig abgeschliffenes Deutsch, von jener scharfkantigen Art, wie es in
den innersten Tälern gewöhnlich erklingt. Er rühmt sich,
der einzige Mann der Gemeinde zu sein, der die Gebirge und die Gletscher
ringsumher alle bestiegen. Er hatte von Jugend auf seine Herzensfreude
an den feierlichen Fernern und kletterte vordem mit seiner Büchse
allein auf die Hörner, neugierig, was da für eine Aussicht oder,
nach seinen Worten: für eine "Einsicht zu fassen" sei. Er ist daher
gewiß der verlässigste Führer im VenterTal und geht überall
mit, wohin man immer will, über den kleinen Ötztaler Ferner
und das Niederjoch oder über das Hochjoch nach Schnals, an der Wildspitze
vorbei ins Pitztal, über den Gepatschferner ins Kaunsertal oder links
hinüber nach Langtaufers und ins obere Vinschgau.
Wir ließen also die Rofnerhöfe rechts liegen und gingen links
ins Niedertal ein und darin fort, einen öden, gar nicht kurzweiligen
Weg, der oft von Fernerbächen durchschnitten ist, über welche
wir nicht immer ungenetzt kamen.
Außerdem war aber weder Gefahr noch Unbequemlichkeit, denn der Steig
ging ganz mählich an der Halde hin, welche düster und mißfarbig
an den Wänden von Glimmerschiefer abbrach und nur etwa an den Ufern
der stürzenden Wässer freundlichem Krautwuchs zeigte.
Im Frühjahr ist das Tälchen dagegen sehr blumenreich, und da
überzieht die Abhänge vor allem der duftende Speik (Primula
glutinosa), die geehrteste aller Alpenblumen. Rückwärts
blickend, hätten wir jetzt wohl auch die prächtige Wildspitze
sehen müssen, die höchste des Ötztalerstockes, welche 11,946
Wiener Fuß über das Meer emporsteigt, aber auf den Höhen
lagen noch trübe Nebel, was wir wegen der gerühmten Schönheit
jener Ansicht sehr bedauerten. So hatten wir eine gute Strecke zurückgelegt,
als wir zu einem Bildstöckel kamen, auf dessen Tafel ein sitzendes
Weib gemalt ist mit einem neugebornen nackten Kind im Schoß. Die
Muttergottes schaut aus den Wolken gnädig herab. Der Rofner Bauer
erzählte, hier habe sein Oheim vor Jahren in Wind und Wetter ein
gebärendes Weib gefunden und in ihren Todesängsten sie gerettet.
Dessen zum Angedenken habe er die Tafel machen lassen. "Sie aber", setzte
er hinzu, "sie war ein Lottermensch von Schnals." "Mein Gott!" sagte einer
von uns, "so gibt es also auch hier in diesen keuschen Wildnissen solche
Opfer der Verführung, und sie gebären an den Fernern, um ihre
Schmach den Augen der Menschen zu verbergen!" Aus Sittsamkeit forschte
keiner mehr nach nähern Umständen, und so erfuhren wir erst
drüben im Vinschgau, daß ein Lottermensch nichts anderes bedeute
als ein Bettelweib, wonach sich denn die Beurteilung des Falles wesentlich
berichtigte.
Bald kamen wir auch zu einer kleinen schwarzgrauen Hütte, welche
ungemein kunstlos aus übereinandergelegten Steinen an die Halde hingebaut
war. Die Vorderseite ragte kaum mannshoch über den Boden auf; Fenster
hatte sie nicht, aber eine niedere Türe. Aus dieser trat ein Mann,
anzusehen wie Robinson Crusoe, in Tierhäute gehüllt, mit verwirrten
Haaren, ungewaschen vielleicht seit Monden. Er zeigte sehr viele Freude,
daß wir uns zu ihm heraufbemüht, und wir dann auch nicht minder,
daß wir so angenehmen Eindruck auf ihn machten. Im ersten Augenblicke
hatten wir allerdings über ihn gestutzt; indessen war er ein glänzendes
Beispiel mehr, daß auch unter rauhem Kittel ein edles Herz schlagen
könne, denn er grüßte nicht allein sehr herzlich und mit
dem heitersten Lachen, sondern bot uns auch gleich eine schmutzige Schüssel
voll Milch an. Dafür ließen wir ihn einen Schluck von unserm
Vinschger Branntwein tun, womit er sich mehr als königlich belohnt
erklärte. Auch lud er uns ein, in sein Haus zu kommen; von uns aber
wollte sich keiner so tief bücken. Doch warfen wir einen oberschlächtigen
Blick hinein und gewahrten in der Finsternis etwas wie eine Schlafstelle
aus Loden und Heu. Am Türpfosten bemerkten wir auch ein geschnitztes
Heiligenbild angeheftet, und vor diesem, sagte uns der edle Wilde, verrichte
er seine Andachten. Nachdem wir in dieser Art von allem Wissenswerten
Notiz genommen, sprach Nicodemus: "Bhüt Gott, Schnalser!", und wir
zogen weiter. Der wilde Mann war übrigens ein Schafhirt aus Schnals,
aus dem Tale, das jenseits der Ferner liegt. Solcher Schäfer gibt
es mehrere in dem Revier. Die ganze Weide im Niedertal ist nämlich
seit undenklichen Zeiten ein Eigentum der Schnalser Bauern, und diese
schicken ihre Herden mit den Hirten über die Gletscher und lassen
sie hier den Sommer zubringen. Deswegen ist denn auch, wie wir noch diesen
Abend erfahren sollten, der Ferner in Schnals ein viel geläufigeres
Thema als in Vent.
Nachdem wir nun zwei Stunden im Niedertal fortgegangen waren, kamen wir
endlich an den Murzollferner, der eigentlich der Ausläufer zweier
anderer ist, die sich oben vereinigen und in dieser Spitze zu Tal gehen.
Die Ansicht gewährt noch ein wenig von der Schönheit der Gletscherwelt,
denn das Tal ist enge, der Blick bergaufwärts beschränkt, der
herabziehende Ferner selbst mit Schutt und Geröll bedeckt, daher
schmutzig und rußig, soweit man sieht. Außen herum an den
untern Kanten hat er mächtige Schuttwälle aufgeworfen. Murzoll
war übrigens dieses Jahr vollkommen ausgeapert (sprich: ausg'appert),
und was er obenauf an Rissen und Schrunden haben mochte, das lag alles
klar am Tage. Um diese Zeit, wenn nämlich die Sommersonne den tückischen
Schnee aufgezehrt und die Ferner "das Hemd ausgezogen haben", so daß
sie Gestalt und Wesen ihrer Oberfläche nicht verbergen können
- um diese Zeit werden sie am liebsten begangen. Dann lauern wenigstens
keine heimlichen Gefahren, und es locken nicht jene leichten Schneebrücken,
die beim ersten Tritte einbrechen und den Wanderer wie die Fallbretter
in den alten Ritterburgen hinuntersenden in die kalte Gruft zur ewigen
Ruhe.
Nicodemus führte uns nun auf Murzoll - er gebrauchte die Namen seiner
Ferner und Berge ohne Geschlechtswort -, und wir gingen eine Weile auf
dem Eise fort, um den Pf ad in der Moräne, der immer mühseliger
wurde, zu vermeiden. Murzoll dagegen zeigte sich zu dieser Zeit recht
eben und zusammenhängend; nur hie und da zog sich ein handbreiter
Spalt hindurch. Allmählich aber wurde auch Murzoll etwas unwegsam,
und wir suchten wieder den Fußpfad auf dem festen Lande zu gewinnen,
den die Schnalserhirten durch unterlegte Felsblöcke zur bequemen
Treppe erhoben hatten. Nachdem wir ungefähr drei Stunden auf dem
Wege gewesen, machten wir bei einer zerfallenen Steinhütte halt,
die in den Zeiten ihres Glanzes wohl ein getreues Ebenbild der ändern
gewesen war, in welcher wir den Schäfer von Schnals gefunden. Hier
nahmen wir etwas Brot und Käse ein und stärkten uns mit dem
Vinschger, auf kahlem Boden, rings von Gletschern umsäumt, dicht
ober unsern Häuptern einen wolkigen verschlossenen Himmel. Letzteres
erpreßte uns manchen trüben Seufzer, denn jetzt, wenn je, standen
wir an der Pforte alpinischer Erhabenheit. Neben uns auf dem braunen Felsgeschiebe,
mitten zwischen ewigem Eis und Schnee war eine kleine Herde Schafe in
der Sommerfrische, die mit ihren Schellen fröhlich klingelten und
zutraulich herankamen. Sie bleiben während des Hochsommers hier im
Freien und suchen bergauf und -ab ihr Futter.
Indessen sollte uns doch nicht alle Freude verlorengehen und nicht alle
Erwartung getäuscht werden. Die Nebel, die sich während unseres
Aufsteigens mehr und mehr gesammelt hatten und eine Zeitlang schwer und
ruhig auf die Gletscher drückten, hoben jetzt, da etwas Wind hineinzublasen
begann, ein lustiges Gejaid an, zogen abwärts, zogen aufwärts,
huschten wie Phantome an den Fernern hin, schlangen wilde Reigen, drehten
sich wirbelnd durcheinander, und zuweilen entstanden weite Risse, durch
welche die Sonnenstrahlen verklärend brachen. Einem solchen Augenblick
verdankten wir einmal eine prächtige Aussicht links hinein in einen
langen, langen Korridor von weißleuchtenden Fernern, zwischen denen
eine breite silberne Straße glänzend dahinzog, wie eine Avenue
zum Palaste des Alpenkönigs oder zu einem Bergschloß der saligen
Fräulein.
Von jetzt an wurden wir allmählich des großen Schneefeldes
gewahr, das den Niederjochferner deckt. Nachdem wir noch ein paar Male
aushilfsweise den Gletscher betreten hatten, weil der Weg zur Seite ungangbar
geworden, nachdem wir auch aus derselben Ursache ein paar kleine Schneefelder
durchwatet hatten, fanden wir uns auf der Stelle, wo der Pfad an den Schrofen
hin ganz aufhört und der Gang über den Gletscher eigentlich
seinen Anfang nimmt. Hier war zwischen die Steine ein hölzernes Windfähnchen
eingeklemmt.
"Jetzt geht's über den Ferner", sagte Nicodemus mit einem feierlichen
Ernste, gleichsam als wollte er in seinen Anbefohlenen die Betrachtung
erwecken, daß sie an einem großen Wagnisse stehen. Die Luft
war feucht, aber nicht kalt. Ermüdung oder anderes Ungemach spürten
wir nicht. Wir ließen in der kleinen Runde noch einmal die Flasche
mit dem Vinschger kreisen und traten dann den Weg an. Nicodemus hatte
zwar Stricke mitgenommen, um uns alle drei nach Vorschrift der Sachverständigen
aneinanderzubinden, aber nach einiger Besprechung hielten wir's doch nicht
vonnöten, auch nicht, als uns der Bauer von Rofen erzählt hatte,
wie kurz vorher ein ungebundener reisender Herr in den Gletscher gesunken
und wie er dann, nach mühsamer Rettung von ungeheurem Ekel an dem
ganzen Wesen erfaßt, Hut und Stock von sich geworfen und in einem
Rennen, als wären ihm alle Ferner des Ötztales auf der Ferse,
über Vent bis nach Heilig Kreuz gelaufen sei, um dort noch immer
voll Entsetzen und halbtot vor Ermattung beim Kaplan wieder zur Fassung
zu kommen. So gingen wir denn unsern Weg, jeder für sich - der Führer
voran, Totenstille ringsum-,kein anderer Laut als das leise Knirschen
unserer Tritte.
Der Gletscher schien uns nicht sehr breit, etwa eine halbe Stunde, vielleicht
nicht soviel. Der Weg führte etliche hundert Schritte von den Felsenwänden,
die zur Rechten ihre Häupter in den Wolken verbargen, schnurgerade
über das weiße Feld hinauf. Die schmutzige Spur von Menschentritten
und Viehtrieb zeichnete ihn sehr kenntlich. Uns schien alles recht sicher
und bequem, zumal da der Gletscher, seiner höhern Lage wegen, nicht
ausgeapert und die Klüfte daher alle überschneit waren. Nicodemus
mochte gleichwohl hie und da Gefahr wittern, denn etliche Male hielt er
an und stieß mit dem Stocke bedenklichen Gesichtes in den Schnee,
ohne Grund zu finden. Er pflegte dann den Kopf zu schütteln, ging
aber nichtsdestoweniger bald mit einem weiten Schritte vor, uns befehlend,
in seine Fußstapfen zu treten, was wir denn auch folgsam taten.
Jetzt war's ungefähr drei Uhr und sehr düster auf dem Ferner
- neben und über uns, vor und hinter uns dichte, stockende Nebel.
Nun begann aber auf einmal zur Linken das Jagen wieder. Das zog und zerrte,
huschte und flog, und plötzlich riß es auseinander, und aus
dem bewegten Wolkenreigen stieg ein ungeheures Hörn, schrecklich
geschartet an den Wänden, von tiefbrauner, feuchtglänzender
Farbe, und um das braune Haupt legte sich wie ein Heiligenschein eine
Scheibe hellblauen Himmels, die auch mit einem Male sichtbar geworden.
Nicodemus blieb stehen, drehte sich überrascht um und sagte leise:
"Das ist Similaun" - und so leise flüsterte er's, als wenn er fürchtete,
durch lautes Wort das Ungetüm zu reizen. Wir aber hatten eine innige
Freude über den titanischen Klotz, und diese wuchs noch immer, als
auch die letzten Schleier an den Flanken des Hornes verflogen und dieses
in seinem schimmernden Braun mit unbeschreiblicher Pracht vom weißen
Ferner sich abhob und in den blauen Himmel ragte. Das ist Similaun, wiederholten
wir, um den Namen ja nicht zu vergessen, und schauten vorwärts schreitend
immer wieder auf dies trotzige Haupt mit dem niegesehenen Ausdruck von
Größe und Wildheit.
Similaun, so schroff er scheint, ist dennoch schon etliche Male bestiegen
worden. Er reizt dazu um so mehr, als er nach der Wildspitze und der Weißkugel
der höchste Grat ist im Otztaler Fernerstock und 11,210 Wiener Fuß
mißt. Der erste, der seinen Scheitel betrat, war der Priester Thomas
Kaaserer von Unserer Lieben Frau in Schnals. Es geschah im Jahre 1834.
Ihm folgte der Landarzt von Algund bei Meran, Franz Rodi, der das Wagnis
am 27. August 1839, aber bei sehr ungünstigem Wetter, vollführte.
Am 22. Junius 1840 bestieg der nämliche die Spitze zum zweiten Male,
willig gefördert und geleitet von den Schnalsern, die unten im Tale
auch Böller aufstellten und die kühnen Steiger, als sie den
Gipfel erreicht hatten, mit Freudenschüssen begrüßten.
Der Himmel war dazumal rein. Die Aussicht wird als unermeßlich geschildert;
sie soll hinausgehen bis ins deutsche Reich, und man will selbst bayerische
Städte gesehen haben. Gegen Morgen zeigt sich der Großglockner,
gegen Abend der Ortler und die Schweizergletscher, ja die kecken Männer
behaupteten sogar, der Montblanc sei ihnen erschienen. Die wimmelnden
Eishäupter und Schneeköpfe in der Nähe sind gar nicht zu
zählen. Übrigens sieht man so weit oben oft viel mehr, als man
nachher den Leuten unten glaubbar machen kann.
So waren wir nahezu ans Ende des Ferners gekommen. Der Himmel hatte sich
jetzt ganz aufgetan, die Sonne schien fast warm, und überhaupt glaubten
wir zu merken, daß sie in den Tälern den schönsten Tag
gehabt, während wir da oben in und über den Wolken gegangen
waren. Nunmehr öffnete sich auch das Land gegen Süden; nahe
prächtige Ferner, die sich gegen Schnals herunterlagern, und hohe
Gebirgsstöcke traten auf, lange, zackige blaue Kämme, die weit
und breit hinzogen nach Welschland oder zum Ortler, und unten wie in Meerestiefe
lachte auch schon das grüne Tal von Schnals. Da standen wir und schauten
bald auf Similaun, den schauerlichen, so hoch über uns, bald auf
das stille Paradies in der Niederung so tief unter uns und wollten nun
rasch über den letzten Auslauf des Gletschers weg. Ehe dies aber
vollbracht, hatten wir noch eine neckische Fährlichkeit zu bestehen.
Der Weg zum Ziele führt hier nämlich rechts an den zerklüfteten
Wänden hin, und zwar noch immer auf dem Ferner, der da in mäßiger
Breite schief abwärts hängt, bald aber ganz senkrecht in einer
turmhohen spitzen Zunge, gleich einem gefrorenen Wasserfall, zwischen
tausendzackigem Gestein ins Tal hinuntergeht. Die letzte kurze Strecke,
ehe wir auf festen Boden kamen, war die bedenklichste - rechts die Felsenwand,
links der gefrorene Wasserfall, in der Mitte durch auf schiefem Eise der
schlüpfrige Pfad. Der eine von uns legte sich nieder, um sich mittels
der Hände über die verdächtige Stelle zu schieben; der
andere wollte aufrecht darübersteigen. Leider gerieten ihm nur wenige
Schritte -jählings glitschte er aus, fiel zu Boden, kam ins Rutschen,
packte in der Zerstreuung den ändern liegenden an seinem Fuße;
dieser, der auf der glatten Fläche keinen Halt hatte, mußte
folgen, und so glitten wir aneinandergekettet, der eine voraus, der andere
hintennach, pfeilschnell dem Wasserfalle zu, über den wir wie zwei
geflözte Holztlöcke hinabgeschossen wären, um unten an
den Felsen zu zerschellen, wenn nicht der Hinterpart trotz aller Eile
den kleinen Nunst eines Eisbächleins entdeckt hätte, das in
derselben Richtung floß, welche wir eingeschlagen hatten. In diesen
stemmte er nun schleunigst seinen Vorderarm, und da das Rinnsal gewunden
war, so gab es bald eine Hemmung, und der todesmutige Konvoi blieb so
noch zur rechten Zeit lebensfroh auf dem Eise hängen. Nicodemus,
der sorglos vorausgegangen war, weil ihm in seiner Geübtheit die
offene glatte Bahn viel weniger Bedenken gemacht als die überschneiten
Fernerklüfte, Nicodemus hatte unterdessen seine Augen am grünen
Tal von Schnals geweidet, kam aber jetzt auf unser Rufen herbei und führte
einen nach dem ändern ans Land, nicht ohne Mühe, denn da unten,
wo wir hielten, war's noch um ein gutes schlüpfriger als oben, wo
wir abgefahren.
Jetzt standen wir also auf festem Felsenboden, 8700 Fuß über
dem Meere, und blickten mit noch einmal soviel Vergnügen in die grüne
Tiefe. Dabei sahen wir auch auf die Uhr und brachten heraus, daß
wir gerade siebenunddreißig Minuten auf dem Ferner gewesen waren.
Im ganzen hatten wir von Vent bis daher nicht volle fünf Stunden
gebraucht, und Nicodemus lobte deshalb unsern rüstigen Schritt. Hier
ließen wir auch den werten Führer ziehen, der im Sinne hatte,
noch nach Rofen zurückzugehen. Wir boten ihm, da im voraus nichts
bestimmt worden, sechs Zwanziger als Führerlohn, und er meinte, für
das bissel Weg sei das übrig Geld genug. Auch legte er seine Zufriedenheit
in einer sehr kräftigen Danksagung an den Tag, und gewiß war
es ebenfalls nur zur Verlautbarung seiner stillen Freude, daß er
uns, allerdings in ganz ungefährlicher Richtung, von oben herab noch
etliche große Steine nachwälzte, um die Wirkung bewundern zu
lassen, wie sie über das Geröll krachend in den Abgrund sprangen.
Wir befanden uns mittlerweile auf einem steilen Felssteig, der mit rotbraunen
Blöcken verfriedet ist und wendeltreppenartig an dem Geschröfe
abwärts zieht. Hier setzten wir unsere Bergstöcke ein und halfen
uns in raschem Schusse zu Tale, kamen zuerst, nachdem wir uns von der
Schrofenwand losgelöst, auf magere Wiesen, die über und über
mit kleinen und großen Felstrümmern beschüttet waren,
und so mehr und mehr aus der Region des Schreckens in die des Grünen,
zu Zirbelnüssen und Lärchenbäumen, zu Hütten und Häusern,
zu Kornfeldern und in die liebliche Au von Unsrer Lieben Frau zu Schnals.
Ehe wir aber so weit waren, drehten wir uns noch einmal um und besahen
den riesenhaften Vorhang von Eis, der aus dem Ferner herunterhängt
und so leicht hätte unsers Lebens Ziel werden können. Dann betrachteten
wir auch die Felsenwand, an der wir herabgeklettert, und fanden es fast
wunderlich, daß wir nun gar keine Spur des Steiges mehr entdeckten,
der uns ins Tal geführt. All die Aussicht über die Berge des
südlichen Landes hatte sich jetzt wieder verloren. Zur linken Hand
zog sich die Schnalser Landschaft in eine enge Schlucht zusammen. Da drinnen
steht der Finailhof, berühmt in der Sage wie der Rofnerhof, weil
Herzog Friedrich, als er diesen verlassen hatte und eine neue Zufluchtsstätte
suchend, über den Ferner gegangen war, beim dortigen Bauern eine
Weile unerkannt lebte und dann den Hof auf ewige Zeiten "von gemeiner
Obrigkeit freite". Die Sage läßt den Fürsten hier die
Schafe hüten und auch auf dieser Seite des Ferners mit einer schönen
Hirtin eine Idylle spielen, was diesseits wie jenseits seine Richtigkeit
haben mag.
Wir aber glaubten wärmere Lüfte zu fühlen, und so sagten
wir uns, wir seien jetzt, wenn auch noch mitten im Hochgebirge, doch schon
jenseits der großen Wasserscheide und eigentlich unter hesperischem
Himmel. Stattliche Männer mit großrandigen spitzen Hüten
und grünausgeschlagenen braunen Jacken kamen des Weges, riefen uns
mit lautem Gruße an, fragten neugierig, ob wir übers Joch gegangen,
und freuten sich unserer Tat, die sie, als von landfremden Leuten vollbracht,
des höchsten Lobes würdig fanden. Darüber fast etwas aufgebläht,
traten wir mit stolzen Schritten ins Wirtshaus, wo zum einnehmenden Gegensatze
mit der finsteren Venter Herberge an den hellen Fenstern und um den großen
runden Tisch sieben oder acht kräftige Zecher saßen, die bei
unserm Erscheinen alle aufstanden und uns mit rüstigen Grüßen
empfingen. Auch sie sagten uns nur Ehrenvolles über unser Wagstück
und erzählten dies und jenes von verschiedenen Fernerfahrten.