LUDWIG STEUB - ALPENREISEN
OBERBAYERISCHE SOMMERFRISCHE
Garmisch-Partenkirchen
Mittenwald
Jachenau
Kochel
Bayrischzell
Frauenchiemsee
Seebruck
Berchtesgaden und Königssee
Garmisch-Partenkirchen
Dem schattenlosen Ufer der Partnach entlang geht ein Fußpfad nach
Garmisch, dem Schwestermarkte, der etwas weiter rechts, im Winkel
der Auen ruht. Abgelegen von der großen Heerstraße für
Römerzüge, Güterverkehr und Kunstreisende hat er fast noch
ein stilleres Leben geführt als Partenkirchen, ist aber neuerer Zeit
mit demselben Schwünge in den Vordergrund alpenhafter Sommerfrischorte
hereingestolpert wie dieses. Namentlich von Berlin und den Ostseehäfen
kommt da jetzt viel Volk zusammen. Wer am meisten Ruf, Glanz und Vorteil
daraus zieht, ist die Husarenwirtin, die wackere Frau, die manchmal an
ihrem Tische vierzig und fünfzig Personen zu speisen hat. Den Namen
hat ihr Gasthof daher empfangen, daß im oberen Stocke ein Husar
und noch ein Militär des vorigen Jahrhunderts zum Fenster herausschauen,
die Ankömmlinge gemütlich betrachtend, welche beide ein unbekannter
Meister jener Zeit gewissermaßen als Wirtshausschild hier angemalt
hat. Der Ort ist nicht, wie Partenkirchen, in einer Reihe an die Straße
gestellt, sondern eine heitere, doch unregelmäßige Sammlung
von größeren, kleineren, mitunter auch ärmlichen Häusern
und von stattlichen Amtsgebäuden, die noch aus der Freisinger Bischofszeit
herrühren. Auch ein gutes Bräuhaus findet sich hier mit einem
schöngelegenen Sommerkeller.
Mittenwald
Mittenwald, ein Markt, zwischen hohe Gebirge eingeklemmt, ohne besondere
Reize der Umgebung, ist eigentlich in unsern Voralpen der einzige größere
Ort, der keine Sommerfrischgäste anzieht. Die Nähe der Scharniz,
des früher befestigten Passes, der öfter belagert und erstürmt
wurde, hat dem Flecken in Kriegszeiten immer viel zu leiden gegeben. Auch
Brandunglück, Viehseuchen und anderlei Mißgeschick kam oftmals
über ihn. Es herrscht daher wenig Wohlstand, obgleich viel Fleiß
und Betriebsamkeit. Die Mittenwalder haben sich nämlich, wie bekannt,
schon lange der Fertigung der Geigen zugewendet und fördern deren
jährlich viele Tausende zu Tage.
Jachenau
Die Jachenauer, obwohl nicht weit von den schwäbischen und halbschwäbischen
Lechrainern und Werdenfelsern entlegen, gehören doch zu dem reinsten
und besterhaltenen Schlag der Bajuwaren. Sie sind schön und zierlich
gebaut, dabei voller Beweglichkeit und Kraft. Auch die Mädchen zeigen
sich in der ersten Jugendblüte recht hübsch und einnehmend,
gehen aber später leicht ins Derbe und Breite über. Die Häuser
werden sehr sauber gehalten und gewöhnlich mit Reimsprüchen
geziert. Es herrscht viel Wohlstand in dem Tale, und namentlich die Wälder
geben reichlichen Ertrag. Selten kommt es daher vor, daß der Jachenauer
in die Fremde wandert. Noch weniger sehnen sich die Jachenauerinnen hinaus
in das übrige Deutschland, ja manche soll, wie der Witz der Nachbarschaft
behauptet, schon am Langeneck erschrocken umgekehrt sein, ganz laut ausrufend:
"Ui, ischt ebber die Welt a Größ'n!"
Kochel
Jetzt ist Kochel ein beliebter Sommerplatz, für Bergsteiger höchlich
empfohlen wegen der Nachbarschaft besonders schöner Voralpen, die
mit herrlicher Fernsicht in die Ebene hinaus und ins Gebirge hinein begabt
sind. Dicht ober Kochel liegt nämlich die Benediktenwand (5500'),
die auch von hier aus auf der gangbaren Rückseite am leichtesten
zu ersteigen ist, und die Jocheralm, weiter gegen Westen aber der Herzogstand
(5380') und der Heimgarten (5480'). Diese vier Alpengipfel möchten
unter den bayerischen wohl diejenigen sein, die am öftesten erklettert
werden. Der Benediktenwand zumal sagt man rühmend nach, daß
von ihrer Höhe aus sieben namhafte Seen zu erblicken seien.
Bayrischzell
Bayrischzell, obwohl achthundert Fuß höher als die Hauptstadt
München gelegen, wird doch von Obstbäumen fast verdeckt, und
nur der Spitzturm der Kirche steigt kräftig über das Laubdach
hinaus. Das Dorf ist eigentlich klein und nicht volkreich, aber nach der
verbreiteten Meinung immerhin ein Urhort alpenhaften Trachtens, Treibens,
Dichtens und Singens. Das alte Zeller-Wirtshaus mit seinen alten, jetzt
verbleichenden Erinnerungen von reizenden Alpenmädchen und schönen
Treulosen, von Liebe und Eifersucht, von Kampf und Streit und blutigen
Turneien, und der alte dicke Wirt, von dessen Grobheit die Reisenden noch
in fernsten Ländern sprachen, sie sind jetzt allerdings dahin. Das
Haus ist umgebaut und hat einen schmucken Tanzsaal sowie verschiedene
wohnliche Gemächer erhalten, welche allerlei Bilder zieren (sämtlich
von L. Wenzel in Wissembourg). Eine alte Merkwürdigkeit, ja eigentlich
ein Wahrzeichen, ist damit freilich vergangen. Wenn nämlich früher
Tanzmusik war zu Bayrischzell und die Gäste herankamen das Tal herauf,
so sahen sie schon von ferne, wie aus einer Dachlücke heraus eine
gespenstische blitzschnelle Hand immer an einem undeutlichen Gegenstand
auf- und niederfuhr. Auf nervöse Naturen wirkte diese Erscheinung
unheimlich und machte sie zucken. Wer dann näher kam, entdeckte,
daß der undeutliche Gegenstand der Hals einer Baßgeige, und
wer gar auf den Tanzplatz stieg, bemerkte, daß dieser unter dem
Dache aufgeschlagen war und daß der Kontrebassist, in die Enge getrieben
durch die Beschränktheit des Raums, sich ein paar Ziegelplatten ausgehoben
und durch dies Ventil den Hals seines Instrumentes hinausgestreckt hatte,
so daß er die Töne oben griff in der freien Alpenluft, während
er unten auf dem qualmigen Tanzboden seinen Bogen führte.
Frauenchiemsee
Die Insel Frauenwörth haben schon manche gute Schriftsteller geschildert.
In der Tat, dieses Eiland, gestaltet wie ein Fisch, und der grüne
Busch von uralten mächtigen Einden darauf, einst die Dingstätte
des Eilands, und das stille, strengverschlossene Frauenkloster, aus welchem
nur der Nonnen Gesang erschallt, und die niedlichen Fischerhäuschen
und die reizenden Gärtchen mit ihren Lilien und Rosen und Nelken
und den Reben, die sich über die Fenster hinaufwinden, und das ruhige
Wirtshäuslein und die wunderschöne Aussicht gegen Mittag über
die spiegelnde Flut auf die Berge des Chiemgaues mit ihren Nachbarn links
und rechts - dazu der leidstillende Gottesfriede, der über diesem
Erdenflecken liegt -, sie haben nicht allein die Dichter und Maler, sondern
auch die Prosaisten schon lange begeistert.
Das Jugendalter der Insel fällt übrigens kurz vor die dreißiger
Jahre, als sie, früher den Münchnern fast unbekannt, durch fahrende
Landschafter aufgeschlossen, behaglich gefunden und mehreren vertrauten
Seelen ihre heimliche Lage und Beschaffenheit mitgeteilt worden war. Da
hob bald im stillen ein großes Reisen an nach dem Eiland des Friedens,
und die Eingeweihten feierten da die fröhlichen Tage, ja selbst Polterabende,
Hochzeiten und Beilager. Unser Haushofer, der da, wie auch Direktor Rüben,
sein häusliches Glück gefunden, fing damals den Chiemsee zu
malen an und hat ihn seit diesem Anfang wohl dreißig oder vierzig
Male gemalt - 's ist immer der alte Chiemsee, aber immer in neuer Auffassung
und mit neuen Reizen. Das Gedächtnis jener Zeiten zu erhalten, legte
Friedrich Lentner im Jahre 1841, also gerade vor zwanzig Jahren, die Chronik
an. Diese ist ein heiterer, fast schnurriger, mit gotischen Randmalereien
verzierter Bericht über die Entdeckung der Insel und die Begebenheiten,
die seitdem da vorgefallen. Solche, die später kamen, Dichter, Maler
und sonstige Naturfreunde, setzten dann das begonnene Werk gar fleißig
fort, dichteten Elegien, zeichneten Landschaftsbilder, Porträts,
auch etliche schätzbare Karikaturen hinein. So ist das Buch ein Kleinod
geworden, das mit Sorgfalt erhalten und aufbewahrt, aber den Eilandsgästen,
die darnach fragen, gerne gezeigt wird. Gar viele haben darüber schon
eine angeregte Stunde zugebracht. Das Inselchen aber erfreut sich noch
immer einer großen Beliebtheit, und es fehlt nicht an elegischen
Pilgern, welche seine Einsamkeit suchen und gern etliche Tage oder Wochen
da verleben. Für Leute, die viel Zerstreuung und Lustbarkeit begehren,
ist es aber kaum mehr geschaffen - denn die lustigen Zeiten sind lange
dahin. Still ist es noch immer, das grüne Eiland, aber es mangeln
die fröhlichen Gesellen und Gesellinnen, welche einst diese Stille
kurzweilig machten. Viele davon ruhen schon lang in der kühlen Erde.
Seebruck
Unter diesen oder anderen Betrachtungen fuhren wir an dem Steg zu Seebruck
an, alle des Willens, den bestellten Wagen zu besteigen und mit Kind und
Kegel nach dem Ort zu fahren, welchem wir das ganze vierte Kapitel in
schuldiger Aufmerksamkeit widmen werden. Auch sah ich schon von ferne
über den langen, schwanken Steg meinen Gönner hereinschimmern,
den freundlichen Hausmeister von Seon nämlich, den ich mir eigens
gekommen dachte, um uns mit einer glückwünschenden Festrede
zu empfangen, das Gepäck zu übernehmen und die Gesellschaft
an den Wagenschlag zu geleiten. Jeder Schritt brachte uns näher und
näher, und endlich waren wir dicht beisammen. Unser freundlicher
Hausmeister, mit dem ich schon manche Viertelstunde unter der Kellerlinde
gesessen - er schien mir zwar so kurz und rund wie immer, aber liebenswürdiger
als je und sagte verbindlichst: die Bestellung sei nicht auszurichten
gewesen; ganz Seon strotze von den anhänglichsten Familien, die um
die besten Worte nicht weiterziehen wollten; der Wagen sei also auch nicht
da, und er selbst nur gekommen, um die kaiserliche Abtei und Badeverwaltung
ergebenst zu entschuldigen und für ein andermal zu empfehlen. Welch
garstige Äffung! Manche Stirne runzelte sich, manches Auge zuckte,
aber das weiseste schien gleichwohl zu fragen: Was nun? Unser Gönner
riet, mit dem Dampfboot wieder umzukehren, nach Frauenchiemsee, nach Prien
zu schiffen, kurz auf- und davonzugehen, je weiter, desto besser.
"Aber wie ist's denn hier im Dorfe?"
"Nicht Raum genug für so viele Leute" (wir waren nämlich, groß
und klein ineinandergerechnet, unser neune), "vielleicht wenig Bequemlichkeit."
"Vielleicht mehr als in Seon", rief da mit lauter Stimme ein dabeistehender
Landjüngling von Seebruck, der die Ehre seiner Heimat ungern herabgewürdigt
sah - "geht nur hinein zum Wirt und schaut!"
Dies schien sehr nahezuliegen und wurde auch gleich versucht. Herr Isaak
Wellkammer, der Gastgeber, in dessen christlicher Familie der seltene
Taufname von jeher in Übung ist, empfing uns mit der ihm eigenen
Freundlichkeit, sprach sehr hochdeutsch, als wenn wir nicht recht bayerisch
verstünden, zeigte uns seine heiteren Zimmer, seine guten Matratzen,
und nach schnellem Umsehen fühlten wir uns ganz glücklich, nicht
wieder in der Abendkühle auf die treulose Flut zu müssen und
eine Stelle gefunden zu haben, wo wir unser müdes Haupt zur Ruhe
legen konnten. Und so nahmen wir also Herberge in dem großen und
guten Wirtshaus des kleinen Seebruck, auf der Stelle der alten Römerstadt
Bedajum, welche noch durch unterirdische Gewölbe und unverständliches
Gemäuer, durch Kaisermünzen, die vor siebzehnhundert Jahren
verloren wurden und jetzt wiedergefunden werden, ihr längst verschollenes
Dasein zu bezeugen sucht.
Berchtesgaden und Königssee
In der Tat ist das Ländchen äußerst schmuckreich - im
bayerischen Gebirge mit keinem ändern, auch nicht mit der Umgebung
von Partenkirchen zu vergleichen, welcher Ort sonst in seinem Wettersteingebirge
den einzigen ebenbürtigen Doppelgänger des Watzmanns aufzuweisen
hat. Partenkirchen und Garmisch, sein Schwestermarkt, liegen nämlich
in einem glatten offenen Wiesental, Berchtesgaden dagegen auf schluchtigen,
buckeligen Halden, deren immer wechselnde Gestaltung das Auge stets von
neuem fesselt. Die Häuser, welche den verschiedensten Geschmacksarten
angehören, kauern malerisch auf den Höhen oder verbergen sich
geschämig in den Tiefen. Die Berghänge außerhalb des Marktes,
welcher selbst schon der Landschaft zur Zierde gereicht, sind mit saftigen
Wiesen belegt, mit reinlichen Bauernhöfen besetzt, von allerlei Bäumen,
Kastanien, Linden, Trauerweiden, Silberpappeln beschattet, von rauschenden
Bächen und Flüssen durchströmt, von Pfaden, Promenaden
und Landstraßen durchschnitten, auf welchen sich emsiges Volk, beschauliche
Alpengäste, Lastkarren und Equipagen farbenreich hin und her bewegen.
Hiezu kommen nun die ragenden Hochwächter rings in der Runde, teils
als schauerliche Wände entgegendräuend, teils bis zum Gipfel
hinauf begrünt und bewaldet, und im Hintergrunde wie die Tiara eines
Hohenpriesters die herrlichen Hörner des Watzmanns.
Da diese Schönheiten außerhalb des Landes ebenfalls schon hinlänglich
bekannt und berühmt sind, so braucht auch nichts zu geschehen, um
die Gäste herzulocken. Die drei kleinen Gasthöfe, welche hier
zu finden, erfreuen sich keines sehr günstigen Rufes. Molkenkur,
Fluß-, Wellen-, Sturz-, Douche- und Sol-Bäder, überhaupt
eine Kaltwasseranstalt und dergleichen würde wohl hie und da an einem
sonniger Plätzlein oder in einer warmen Bergschrunde sich noch anklammern
können; indessen hat bajuwarische Erfindungsgabe für die leidende
Menschheit am Rand der Alpen schon so viel geleistet, daß wir ihr
eine weitere Anstrengung nicht zumuten wollen. Zu Berchtesgaden ruft auch
niemand darnach. "Die meisten Bewohner des Städtchens sind Beamte
und Bergleute mit fixen Besoldungen, die von einer Erhöhung der Preise,
welche ein starker Zufluß von Fremden notwendig mit sich führt,
nicht gewinnen, sondern nur verlieren können." Damit hängt es
auch zusammen, daß der Wohnungen,, die dem Fremden sich gastlich
öffnen, sehr wenige sind, denn was Licht, Luft und Aussicht hat,
ist eben von diesen Honoratioren für Sommer und Winter in Miete genommen,
und wenn sonst ein schnell ausgeräumtes Mägdestübchen oder
Apfelkämmerlein zu hohen Preisen angeboten wird, so findet sich gewöhnlich
nichts darinnen als ein übler Geruch und etlich morsches Gerumpel
aus der Zeit der gefürsteten Propstei. Eigene Häuser mit Rücksicht
auf den Fremdenbesuch oder gar schweizerische Pensionen herzustellen,
ist hier noch niemandem eingefallen. Ebenso fehlt es auch an irgendeinem
größeren Lokal, welches den Fremden bei Regenwetter zur Zusammenkunft
oder überhaupt der Geselligkeit dienen möchte, obgleich im Neuhaus
ein Leseverein besteht, welcher ein halbes Dutzend Zeitungen gewährt.
Niemand geht von Berchtesgaden, ohne den Königssee betrachtet, vielmehr beschifft zu haben. Infolgedessen ist er wohl auch der bekannteste unter allen Seen der Erde, den Deutschen wenigstens bekannter als der Genfersee und der Lago Maggiore. Ich setze das gerne voraus, weil ich ihn nicht beschreiben mag in seiner dämonischen Wildheit, die doch so schön ist. Übrigens gefällt er mir auch nicht mehr so sehr wie vor dreißig Jahren. Damals erinnere ich mich noch gut, wie wir als ein paar Musensöhne einen ganzen Tag auf dem See und zu Barthelmä und an der Eiskapelle und am Obersee uns herumtrieben, ohne daß uns ein Mensch im Wege umging. Jetzt kann man kaum mehr einen Tritt tun, ohne einer reisenden Familie mit Hofmeister und Gouvernante ausweichen zu müssen. Ich liebe die Menschen unendlich, aber wenn so die unbekannten Touristenseelen aus allen fünf Weltteilen in dichten Haufen auf dem erhabenen See daherschiffen und zu Barthelmä ins Wirtshaus drängen und sich da breit und vornehm und gebieterisch an die Tische setzen und alle Salmlinge wegessen, so daß dem bescheidenen Inländer von dieser Lokalzelebrität etwa gar nichts überbleibt, dann möchte er leichtlich seufzen: "Ach, vor dreißig Jahren war's doch schöner!"