LUDWIG STEUB - ALPENREISEN
DIE SCHÖNHEIT DES VOLKES
Aber wie sehen denn die Leute, von denen du so lange plauderst, eigentlich
aus? Sehr gut, sag' ich, denn es ist ja bekannt, daß der altbayerische
Bauer noch etwas auf seine Volks- oder Standestracht hält und daß
Männlein und Weiblein für ihr "Feiertagsgewand" nicht leicht
etwas zu schön und zu teuer finden. Ferner ist der Stamm der Chiemgauer
gut gebaut und kräftig, auch groß gewachsen, und es schadet
ihm nicht, daß er fast ohne Ausnahme die Nase ziemlich lang trägt
- eine Entdeckung, welche schon anderswo verzeichnet ist und vielleicht
von bleibendem Wert sein dürfte. Übrigens sind die Männer
sozusagen fast schöner als ihr Gegenpart - unter den Gestalten der
Jungfrauen findet sich wohl manche, welche man leidlich und angenehm nennen
könnte, aber keine von jenem aphrodisischen Liebreiz, wie ihn so
viele Tirolermädchen ganz ungezwungen mit auf die Welt bringen. Aber
nicht etwa die Gemeinde Seebruck und ihre Nachbarschaft oder der Chiemgau
allein leidet unter diesem empfindlichen Mangel, sondern überhaupt
das ganze Oberland und all das bayerische Gebirge. Gewissenhafte Landgerichtspraktikanten,
welche aus Liebe zur Wahrheit die Sache gründlichster Prüfung
unterzogen, behaupten da wie dort: in ihrem ganzen Bezirke finde sich
keine einzige Huldin, die den goldenen Apfel aufzuheben würdig wäre.
(Und wirklich hat man auch in der Auswahl garstiger Kellnerinnen seit
den letzten Jahren so riesige Fortschritte gemacht, daß eine Umkehr
viel wünschenswerter scheint als ein Weiterstreben auf dieser entsetzlichen
Bahn.)
Viele behaupten sogar nicht ohne einigen Schein: da alle Wohlgestalt nachgerade
unter die Männer gegangen, so würden diese fürderhin "das
schöne Geschlecht", so daß das andere nur "das schwache" bliebe
- fast zuwenig im Vergleich mit seiner bisherigen Stellung und seinem
strebsamen Geist! Die richtige Meinung ist aber wohl die, daß in
einem sonst kerngesunden und wohlgeschlachten Volke die Schönheit
periodisch wiederkehren müsse, wenn auch jetzt ihre Tage noch nicht
so nahe sind, als manche wünschen. Es ist nämlich der Erinnerung
wert, daß die Jungfrauen, deren Geburt unter die nachwirkende Herrschaft
des elften Kometen fiel, sich in den dreißiger Jahren zu München
durch jene himmlischen Reize hervortaten, welche wahrscheinlich noch in
den Liedern fortleben würden, wenn wir damals schon so viele und
so gute Poeten gehabt hätten wie jetzt. Und wie gewaltiger Lärm
war damals von den herrlichen Sennerinnen, den wildschönen Alpentöchtern,
die im Gebirge ein schreckliches Spiel mit den städtischen Herzen
treiben sollten, während es doch jetzt davon ganz ruhig ist. Wenn
nun jene Meinung (und wer kann sie bestreiten?) sich bestätigen sollte,
so möchten die Kometen, die sich in den letzten Jahren an unserm
Abendhimmel zeigten, wahre Hoffnungssterne gewesen sein, und mancher Musensohn,
der eben die Pandekten zu studieren beginnt und die Absicht hat, bei seiner
einstigen Anstellung sich zu verehelichen, kann immer den Trost hinnehmen,
daß er mit seinen "zärtlichsten Trieben" auch noch in die gute
Zeit fallen werde.
Übrigens nehmen die Volkstrachten, wie es scheint, ihren Ursprung
immer in den höhern Ständen und steigen von diesen in die untern
und zu den Bauern herab. Die Bauerntracht ist aber wie die Aloe, die nur
alle hundert Jahre blüht - sie gerät nur nach langen Zwischenräumen
in den Zustand der Empfängnis; der Bauer und die Bäuerin häuten
sich selten früher als nach der dritten oder vierten Generation.
Vieles, was die wechselnden Moden den höhern Ständen bringen,
geht wieder dahin, ohne daß von unten her ein Auge darauf geworfen
wird - manche Erscheinung aber, die gerade in die Zeit fällt, wo
das Landvolk wieder seinen Schoß eröffnet, hält sich auf
mehrere Menschenalter hinaus. Eine der vorstechendsten Trachten Tirols
war ehemals bei den Männern auf der Höhe von Kastelrutt in Übung.
Sie ist seit etwa dreißig Jahren untergegangen, und man sieht sie
wie viele andere tirolische nur noch auf älteren Trachtenbildern.
Sie bestand aus einem grauen Spitzhut, großer Halskrause, roter
kurzer Joppe, gelben Hosen und weißen Strümpfen. Diese Kleidung,
in allen Stük-ken das Vorbild der deutschen Hanswurstentracht, zeigt
sich in genauer Übereinstimmung bei den Kriegsleuten auf Bildern
der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts. Die Jacke der Meraner
Bauern ist wohl ein Erbstück aus der Zeit des Dreißigjährigen
Krieges. Die Spitzelhaube war nach einem Bildnisse im Braitenbergischen
Hause zu Meran im Jahre 1764 noch die Tracht der angesehensten Stadtfrauen.
Die hohen spitzigen, filzenen Weiberhüte, wie sie jetzt im Unterinntale
getragen werden, bildeten nach altern Votivtafeln, die in oberbayerischen
Wallfahrtskirchen hängen, um den Anfang des vorigen Jahrhunderts
die Zierde vornehmer Damen. Die Pelzkappe, welche in unsern Tagen die
vermöglichen Bäuerinnen in Oberbayern tragen, trug im Jahre
1669 die Frau Kammerrätin Mayer, deren Konterfei im Gange des Klosters
Schäftlarn zu finden. Im allgemeinen dürften wenige Trachten
älter sein als zwei Jahrhunderte. Ihre Verschiedenheit aber scheint
dadurch zu entstehen, daß sich in den verschiedenen Gegenden die
chronische Empfänglichkeit zu verschiedenen Zeiten einstellt, wie
sie denn auch bei den beiden Geschlechtern nicht immer gleichzeitig auftritt
und das eine oft eine Neuerung einführt, während das andere
alles beim alten läßt. Eine teilweise Änderung hat in
diesem Menschenalter der bayerische Bauer zwischen Isar und Lech vorgenommen
und dabei die Herrenmode mit den langen Röcken und den eingebogenen
Hüten sich angeeignet, wie sie etwa vor fünfundzwanzig Jahren
getragen wurden, beides freilich in etwas derberer Form. - Die Weiber
dortiger Gegend aber blieben in allen Stücken beim alten Herkommen;
dagegen sind die am Chiemsee und am Tegernsee von den Keulenärmeln,
die vor etwa fünfzehn Jahren das Neueste waren, hingerissen worden
und haben sie mit Belassung des übrigen ihrem Anzug vereint. Unter
den Trachten der Männer ist ohnedem nur eine, welche den Ausschlag
gibt, allen ändern vorangeht und alle zu verschlingen droht. Dies
ist die graue Joppe mit dem grünen Spitzhut. Als ihr Herd und Mutterhaus
ist die Gegend von Miesbach und Tegernsee zu betrachten, obwohl sie auch
dorthin erst seit Menschengedenken gekommen, und zwar aus Tirol, aus dem
Zillertale - oder noch genauer scheint es eigentlich die Tracht der Duxer
Hirten zu sein, welche durch die Tiroler Holzarbeiter herausgebracht wurde
und wegen ihrer wunderbaren Einfachheit und ihres immerhin flotten Aussehens
sich bei arm und reich schnell Anerkennung verschaffte, ja jetzt schon
so viele Herrschaft übt, daß sie nicht allein die Landleute,
sondern auch die feinen Herrn aus der Stadt, die Staatsdienstaspiranten
und andere Würdenträger, die Maler und die Kupferstecher sich
Untertan gemacht. Selbst vor den norddeutschen Augen hat sie Gnade gefunden,
und man sieht manchen Berliner Geheimrat, manchen Hamburger Bankier, der
sich gleich nach den ersten Tagen, von dem Reize des Gewandes angezogen,
in eine Kochlerjoppe hüllt und stolz am Tegernsee hinwandelt, nicht
ohne dabei sein frisch einstudiertes Schnaderhüpfel zu zirpen. (Kochlerjoppen
heißen sie erst seit wenigen Jahren von einem Schneider zu Kochel,
der sie besonders billig fertigt und in großen Ladungen zu München
verkauft.)
Also hatten denn auch die Tegernseer Schönen vielleicht von der höchstseligen Königin Karoline und ihren Hofdamen vor vier Dezennien die kurze Taille und den langen knappen Rock angenommen, letzteren aber so verengert, daß er sich nur wie eine dünne Röhre um die Glieder spannte. Später kamen dazu die Gigotärmel, die vor etwa dreißig Jahren das Neueste waren und mit mächtiger Erweiterung an den kurzen Spenzer gefügt wurden. Dazu trug man wohl auch die grünen schmalgekrempten Hütchen, aber nur so verstohlenerweise, denn aus der Kirche waren sie wegen der ihnen einwohnenden Üppigkeit verbannt, und das eigentliche Feiertagsstück für das schöne Haupt wurde die "Pechhaube" - eine schwarzwollene, dicht über den Kopf gegossene Halbkugel, sehr sittsam, aber zugleich abscheulich. Das enge magere Gestell, die maßlose Aufblähung an den Flügeln und der kleine plattgedrückte Kopf gaben der ganzen Gestalt etwas Libellenartiges - es sah zwar ziemlich plump aus, aber doch glaubte man immer, es sei aufs Fliegen angelegt. Da war es wirklich nicht so notwendig, die "alte" Volkstracht zu erhalten, als vielmehr eine neue einzuführen. Letzteres hat sich jetzt auch von selbst gemacht - die Röcke sind in den jüngsten Jahren wieder weiter, kürzer und faltenreicher geworden, die Keulenärmel sind verschwunden, die bürgerlichen Mieder eingeführt, und auf dem Köpfchen - und sogar in der Kirche - prangt unbehelligt der grüne, früher exkommunizierte Spitzhut mit Blumenbusch und Goldschnur. Abgesehen von letzterem ist die Tracht gerade nicht sehr charakteristisch, aber kleidsam und ausgezeichnet durch die hellen Farben, die allen ändern vorgezogen werden.