Tirol.

Von den Burgen auf der Nordseite Merans ist vor Allem Tirol merkwürdig, und zwar insbesondere wegen seiner Fernsicht in das Etschland.

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Schloß Tirol

Es kommt nicht zu häufig vor, daß der Geschmack der Reisehandbücher wie der Reisenden in der Umgegend einer Stadt gerade die allerschönste Stelle auffindet und diese Stelle vorzugsweise und mit Vorliebe besucht wird. Die Karavanen der Reiter, welche stets in der Nähe dieser Burg gesehen werden, bieten uns hier jene erfreuliche Ausnahme gegen die herkömmliche Blindheit. Von hier ist es zu allen Zeiten herrlich hinabzuschauen, sei es in die Früchte des Herbstes oder in die Blüten unseres Frühlings, sei es in den roten Glanz der Berge oder in den Wasserdampfschleier eines trüben Tages, durch welchen ihr mattes Blau nur mit Mühe bis zu unseren Augen dringt.

Der Raum, welcher den Besuch verlohnt, ist außer dem großen Saale, die Kapelle. An ihrer Türe ist, wie an den Pforten vieler mittelalterlicher Heiligtümer, ein Hufeisen angebracht, dessen Sinn sich heute Niemand mehr enträtseln kann. Die bunten Fenster sind aus Malereien verschiedener Jahrhunderte zusammengesetzt, die Arabesken, welche den Betstuhl der Maultasche verzieren, hat der Meister durch Heraushauen aus dem harten Holze geschaffen.

Wie überall, bilden die Fresken an der Decke gruppenweise Kreise, welche noch deutlich durch den Kalk hindurch schimmern, welchen der Unverstand darüber geschmiert hat. Das romanische Kreuz zeigt die edeln Linien seiner Zeit und ist nur mit einem ebenso mächtigen Kreuze zu vergleichen, welches in der Spitalkirche an der Passer hängt. In den Ecken schweben Engel, welche die Tünche fast verwischt hat. Hoch berühmt sind auch die geheimnisvollen Bildwerke, welche sich im Schlosse befinden. Mancher Schriftsteller hat sie mit willkürlicher Phantasterei gedeutet, von Messmer aber sind sie mit einer Klarheit beschrieben worden, welche auch dem Laien der Kunstgeschichte ihren Sinn greifbar macht.

Das Schloß Tirol erhebt sich auf Tonschiefergestein, am Rande einer brüchigen, tief ausgewaschenen Schlucht, an deren morschen Seiten auch solche Erdpyramiden zu sehen sind wie bei Lengstein oder an anderen Orten des südlichen Porphyr-Gebirges.

Diese Erdpyramiden der Schlucht werden durch Blöcke gehalten, welche die Abwitterung durch Luft und Regen wehren, und das Schloß Tirol selbst erscheint nur wie ein solcher Block, der den brüchigen Kegel schützt. Schaut man in die Zerklüftung nördlich vom Wege unter der Burg, so erbeben sich an der Wand rechts im morschen Gestein ein Dutzend ungeheuerlicher Gestalten. So mußten die Steinkolosse, welche vor Jahrtausenden durch menschliche Umrisse in den Tempeln des Morgenlandes diese oder jene Lehre der Priester versinnbildlichten, aussehen, als sie noch unausgebildet in den Werkstätten der Bildhauer lagen und die volle Gestalt kaum erst durchzuschimmern begann durch die taube Kruste, die der Meissel noch losschälen sollte, bevor das wunderliche Sinnbild deutlich dalag. Bedeuteten jene im Morgenland meist irgend eine Tätigkeit oder eine Kraft der Natur, so mögen auch diese auf dem Tirolerberge uns an die Gewalt längst zerronnener Ströme erinnern.

Quelle: Heinrich Noe, B. Johannes, Die Burgen von Tirol in Bild und Wort, Partenkirchen ca. 1890, Nr. 5.

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