Schneefälle und Schneestürme.

So schön und großartig sich Täler und Berge im Winterschmucke bei heiterem Wetter ausnehmen, so düster gestaltet sich das alpine Bild, wenn mannshohe Schneefälle eintreten oder gefährliche Stürme und Lawinenstürze Gegend und Bewohner bedrohen.

Im Haupttale mit seinen reicheren Verkehrsmitteln machen derlei Ereignisse weniger, desto schlimmere Folgen treten nur zu oft in den tieferen Nebentälern ein, besonders bei jenen Einzelnhöfen, die entweder in enge Gebirgswinkel (Tobel) hinein oder an steile Lehnen hinangebaut sind, zu denen man schon bei regelrechter Witterung kaum gelangen kann. Die sind dann oft wochen- und monatelang von jeder Verbindung abgesperrt, und jeder Gang hinaus oder hinab ist mit Gefahr verbunden. Zwar für den Lebensunterhalt ist der Hauptsache nach gewöhnlich gesorgt. Brot, Mehl, Butter und Schmalz befindet sich im Hause, und zum Heu gelangt man, wenn sich auch der Futterer, wie es oft in Kühthei [Kühtai] oder Praxmar (1700 bis 2000 Meter über dem Meer) der Fall ist, einen Tunnel bis zum Stadel graben muß.

Solche gewaltige Schneefälle ereignen sich ziemlich häufig. Einer der größten in der letzten Zeit war im Jahre 1870, und vor Allem im letzten Winter, wo in den südlichen Tauerntälern, z. B. in der Prettau, der Schnee monatelang zwei Meter, im Mölltale sogar vier Meter hoch lag. So wirft es in Damüls, im innersten Bregenzer Wald, oft in einer Nacht einen über Meter hohen Schnee, sogar fünf bis sechs Meter hohen. Da ist es denn freilich schwer, in die nächste Kirche zu gelangen, falls nicht Frost eintritt und den Schnee tragbar macht. Die Leute kommen daher oft nur mit Lebensgefahr zum sonntäglichen Gottesdienst und mögen froh sein, wenn sie mit heiler Haut wieder zu Hause eingetroffen sind. Kam es ja doch vor Kurzem vor, daß die Bewohner von Kühthei [Kühtai] nach dem kaum zwei Stunden entfernten Ochsengarten "kirchen" gingen und ihnen der Rückweg durch volle acht Tage versperrt war. So hatte Schneegestöber und Verwehung innerhalb einer Stunde die verhältnißmäßig kurze Strecke unpassierbar gemacht.

Schlimmer ist es noch, wenn eine schwere Erkrankung eintritt oder ein Sterbender nach dem Geistlichen verlangt. Kommt ein Eilbote von einem noch so entlegenen Berghofe, so macht sich der Priester trotz Kälte, Schneegestöber und Lawinengefahr sofort auf den Weg. Liegt tiefer Schnee, so gehen gewöhnlich fünf, sechs Leute als Wegmacher mit. Trotzdem ist schon mancher Seelenhirt bis über den Kopf eingesunken, so daß nur noch die zwei Arme mit der "Wegzehrung" herausschauten. Solche Gänge zu hochgelegenen Einödhöfen, besonders bei Nacht, sind auch bei regelrechten Verkehrsverhältnissen gefährlich. Übereiste Bächlein, von tückischer Schneedecke nur leicht überzogen, schlüpfrige Brücken, die oft nur aus zwei Baumstämmen über grausige Rünste führen, abschüssige, schneeverwehte Lehnen lassen selbst den mit Steigeisen bewehrten Fuß leicht ausgleiten und den Unglücklichen pfeilschnell dem Abgrund zuschießen. Jedes Jahr weiß von solchen Abstürzen zu erzählen, und der "Marterlen", welche von derlei Unglücksfällen berichten, sind unzählige.

Am schlimmsten ist es, wenn sich nach starkem Schneefall die donnernden Lawinen 1) vom Gehänge loslösen. Man muß die Furchtbarkeit solcher Naturerscheinungen erlebt haben, um sich davon einen Begriff machen zu können. - Von dieser winterlichen Geisel bleibt fast kein Tal in den Alpen verschont, obwohl nicht jedes in gleichem Maße heimgesucht ist. Besonders bedroht find das Mölltal und Lungau, ebenso die Seitentäler des Pustertales: Defreggen und Virgen, die Zillertaler Gründe, Selrain [Sellrain], Paznaun u.s.w. So sind z. B. in letzterem Tale, in Galtür, sowie in Rabenstein (Hinterpasseier) nur drei Häuser, in Pill und Fartleis (auch Hinterpasseier) kein einziges Haus lawinensicher. Man kann annehmen, daß in Tirol jährlich zwölf bis fünfzehn Wohnsitze von Lawinen fortgerissen werden und zwanzig bis dreißig Menschen ihnen zum Opfer fallen.

1) Was den Namen betrifft, so ist dessen Ableitung noch nicht vollständig sichergestellt. Jedenfalls muß man von der Beziehung zu "lau", die Berlepsch und andere, gestützt auf die schweizerische Form Lauwine, Lauine angenommen haben, absehen. Der Ausdruck lavine kommt schon bei Paulus Diaconus vor und ist jedenfalls rätolatinischen Ursprunges. Das Wahrscheinlichste ist wohl die Ableitung von der Wurzel lab (vgl. lateinisch Iabi): herabgleiten, was auch mit Lava, Lavinium stimmen würde. - "Lahn" heißt die Lawine in Tirol und in den östlicheren Alpengegenden, Harrein im Kanton Wallis, mit starker Betonung der Stammsilbe, an anderen Orten der Schweiz nennt man sie Arein, Man leitet dieses Wort gewöhnlich vom altdeutschen Zeitwort "haren" - tönen ab. Dies ist jedoch unrichtig, Arein und Harrein sind romanischen Ursprungs und stammen vom lateinischen arena = Sand, so genannt vom trockenen Schneestaub der Windlawine.

Der Älpler unterscheidet drei Arten von Lawinen, die Schneelahn, die Wind- oder Staublahn, in der deutschen Schweiz Harrein, in italienischen Gebieten Tormenta oder Cuß genannt, und die Grund- oder Schlaglawine. Erstere zwei gehören dem Winter, letztgenannte dem Frühjahr an.

Die verhältnißmäßig harmloseste von diesen dreien ist die Schneelahn. Sie hat meist ihre eigenen bestimmten Gänge, tritt überhaupt nur bei außerordentlichen Schneefällen ein und setzt frischgefallenen feuchten oder durch Tauwetter, besonders Regen, erweichten Schnee, sowie stark abschüssiges Terrain voraus. Da sie verhältnißmäßig langsam abrutscht und wenig stäubt, ist auch die sie begleitende Lufterschütterung eine geringere und der Mensch kann sich, durch das ferne Getöse gewarnt, unter günstigen Umständen vor ihr retten. Sie läßt meist den halben Schnee auf ihrem Wege liegen, wenn sie sich auch durch rechts und links abstürzende Seitenstränge stets vergrößert. Meist brechen diese Lawinenstürze, wie bemerkt, bei eintretendem Tauwetter los oder bei jenen unheimlich lauen Föhnstürmen, wie sie oft plötzlich, besonders um Weihnachten, eintreten. Deshalb ist in solchen Fällen der Gang zur mitternächtlichen Christmette gefährlich, auch fand schon Mancher, nach Hause zurückgekehrt, sein Heim hinweggefegt.

Weit gefährlicher und deshalb gefürchteter sind die Wind- oder Staublawinen. Sie entstehen, wenn es, wie man im Volke zu sagen Pflegt, anhaltend "trocken" schneit, was im Hochgebirge, besonders bei Nordwind, die gewöhnlichste Art des Schneefalles ist. Ist nun der Boden gefroren und kommt dieser lose, feinkörnige, trockene Schnee in großen Massen darauf zu liegen, so hat er auf den abschüssigen Lehnen keinen Halt und stürzt oft bei der kleinsten Erschütterung mit donnerähnlichem Getöse und mit unglaublicher Schnelligkeit ab, wobei die Reibung des hochaufwirbelnden und dahingetragenen Schneestaubes in der Luft einen orkanartigen Wind erzeugt, der das eigentliche Merkmal der Windlawine ausmacht.

Noch verhängnißvoller gestaltet sich dieselbe, wenn eine Menge frischgefallenen trockenen Schnees aus eine ältere, an der Oberfläche bereits verharschte Schneeschicht fällt. Dieser untere Schnee ist in 'höheren Lagen eine ganz mehlartige, trockene Masse, Gleitet nun der frische Schnee auf der glatten Unterlage, auf der er keinen Halt findet, ab, so reißt er in seiner wirbelnden Abwärtsbewegung meist die untere Staubschicht auf und mit und verdoppelt dadurch sowohl seine Masse als noch besonders den Luftdruck. Gerade der pulverige Schneestaub der unteren Schichte ist es, welcher, sturmerzeugend, jene furchtbare Wirkung offenbart, die der Gegend und den lebenden Wesen so verderblich wird.

Von dem feinen Schneestaub, den die Windlawine fast immer mitführt, hat sie eben in alamannischen Gebieten den Namen "Staublahn", in Oberkärnten "Moltlahn" (von Molte, Staub), welche Ausdrücke dem schweizerischen "Harrein" und dem tessinischen "Tormenta" (Wirbellawine) entsprechen. Denn diese verheerenden Schneestaubwirbel, die wie kirchturmhohe Schneehosen oft in der Zahl von sechs bis zehn dahergestürmt kommen, bilden ein eigentümliches Merkmal der Windlawinen.

Da der stoßweise vorrückende und wirbelnde Orkan jede Windlawine begleitet, betrachtet das Volk, ja zum Teil sogar hervorragende Alpenforscher, den Wind als die Ursache des ganzen Elementarereignisses, 2) Man könnte in dieser Ansicht um so mehr bestärkt werden, wenn man bedenkt, daß die Menge des von einer Windlawine herabgeführten Schnees nicht selten eine verhältnißmäßig ganz geringe ist, während der sie begleitende Sturm trotzdem die größte Kraft äußert. So warf vor wenigen Jahren auf der Arlbergbahn eine ganz kleine Windlawine, vielmehr der sie begleitende Sturm, drei schwere Waggons um, obwohl die mitgeführte Schneemenge eine ziemlich geringe war. Trotzdem ist es ganz unzweifelhaft, daß der Sturm nur die Folge des Lawinensturzes ist und vorzüglich durch den pfeilschnell abschießenden Schneestaub, dessen bedeutende Ausdehnung eine viel größere Reibung der Luftschichte bewirkt als der festere Schnee, veranlaßt wird. Man schüttle einfach im Walde einen Baumast und erzeuge so einen herabfallenden trockenen Schneeregen, dann kann man aus der durch diese Miniatur-Staublawine erzeugten Luftbewegung einen Schluß auf größere machen 3).

2) Das Volk in den Alpen meint, der fallende trockene Schnee schneie den Wind ein. Wenn nun sehr viel Wind eingeschneit sei, so hebe er die Schneedecke und breche los.
3) Dem Physiker ist, wie mir Prof. L. Pfaundler mitteilte, diese Erscheinung unter dem Namen des "aerostatischen Paradoxon" bekannt, auch wird von demselben Prinzip bei der Bunsen'schen Wasserluftpumpe, bei Wasserstrahlgebläse u.s.w. praktische Anwendung gemacht.

Daß nicht der Wind die Ursache, sondern erst die Folge ist, dürfte auch daraus hervorgehen, daß die verderbliche Windwirkung, Entwurzelung von Bäumen etc. erst ein Stück unter dem Beginn der Lawine sich bemerkbar macht. Aus diesen Wirkungen ersieht man auch deutlich, daß die Windstöße zuerst senkrecht zur Achse der Lawine, im weiteren Verlaufe schief abwärts und endlich parallel zu ihr laufen. Der Hauptstoß eilt natürlich der Lawine voraus und daraus erklärt sich auch, daß auf den entgegengesetzten Tallehnen die Lawine durch ihren stürmischen Begleiter und Vorreiter jene bekannten fürchterlichen Wirkungen offenbart, lange ehe sie selbst die Talsohle erreicht hat.

Diese sind in der Tat fast unglaublich. - Die stärksten Tannen- und Lärchenwälder werden in wenigen Sekunden wie wegrasiert. Die am 21. Februar 1888 ober Alba im hintersten Fassatal niederstürzende Windlawine durchbrach, obwohl durch einen Legföhrenstreifen bereits geschwächt, den darunter befindlichen Wald in einer Breite von 300 Metern und trug 8000 geknickte Baumstämme in's Tal. Der Windstoß einer Lawine schleuderte, nach Berlepsch, einen granitnen Tränktrog eine Viertelstunde weit und am Arlberg wurde vor wenigen Jahren eine Kutsche samt Pferd sechzig Meter weit durch die Luft getragen.

Der Anblick so einer "wie die Kugel aus dem Rohr" herabsausenden, donnernden, krachenden und knirschenden, von Schneerauch eingehüllten und von Staubwirbeln und schneidend schärfen Windstößen begleiteten Lawine soll nach dem Ausspruch von Augenzeugen etwas Fürchterliches sein. Selbst habe ich diese Art von Lawinen in der Nähe nie gesehen. Das genauere Zuschauen ist auch nicht ganz rätlich, denn selbst die ferne Wirkung solcher Windlawinen ist oft gefährlich. Mir erzählte im letzten Jahre ein Bauer aus dem Selrain [Sellrain], mit dem ich mich in ein Gespräch über Windlawinen einließ, Folgendes: Seine Schwester sei vor einigen Jahren unweit des Hauses gestanden, als gerade an der gegenüberliegenden Tallehne eine Windlahn losging. Sie eilte sofort der Haustüre zu, aber obwohl sie höchstens zehn bis zwölf Schritte entfernt war, so konnte sie dieselbe nicht mehr erreichen, sondern wurde vom furchtbaren Luftdruck erfaßt und sofort erstickt.

Einen fast gleichen Fall erzählt Berlepsch in seinen "Alpen": Im Graubündner St, Antöniental sah ein Knecht weit droben an der Bergwand, vielleicht anderthalb Stunden von seinem Standpunkt, eine Lawine anbrechen und eilte, einen Stall zu erreichen, der ziemlich gesichert stand. Obgleich dieser nur etwa vierzehn Schritte entfernt war, so vermochte er denselben doch nicht zu gewinnen, sondern wurde vom vorausjagenden Windstoß ergriffen, über das Dalfozzer-Tobel hinübergeschleudert und dort von der blitzschnell nachfolgenden Lawine begraben.

Ähnliches hört man fast jedes Jahr; so wurden gerade im letzten Jahre zwei Weiber, die von Thierbach über das fog. Hösl nach Alpach steigen wollten, drei Schritte von der Höslkapelle erstickt aufgefunden. Die eine stand aufrecht im Schnee und hatte die Hand vor den Mund gepreßt. Es scheint die plötzliche Luftdruckänderung die tötliche Wirkung hervorzubringen. Sich niederwerfen und das Gesicht in den Schnee stecken, ist daher das sicherste Mittel. - So machen es auch triebmäßig die Tiere, z.B. Ochsen, die von einem solchen Schneesturm erfaßt werden.

Bei kleineren Windlawinen ist die Schneemasse als solche durchaus nicht so gefährlich, selbst wenn man in ihr begraben wird. Denn der Schnee ist ganz trocken und leicht und verhütet so das Ersticken. Selbst aus ziemlich hohem Schneegrabe arbeitet sich ein starker Mann heraus, wenn ihn nicht die Kraft verläßt oder die Kälte erstarrt; allerdings kommt auch eine nicht ungünstige Lage, welche ihm freie Bewegung der Körperteile erlaubt, sehr in Betracht. Der Mensch hält es ziemlich lange unter der Schneedecke aus, und man hat Beispiele, daß Leute vierundzwanzig Stunden und länger verschüttet waren und gerettet wurden.

Dringt die Kunde von solch' einem Unglück in ein Dorf oder Gehöft, so macht sich trotz neuer drohender Lawinengefahr sofort Alt und Jung zur Rettung auf den Weg. Freilich dauert dies oft lange, man denke nur an verschüttete Heuzieher, die hoch oben am Bergmahde von der Lahn eingeweht werden. Da verrinnt wohl Stunde um Stunde dem Begrabenen, der, wenn er sich nicht herausarbeiten kann, den sichern Tod vor sich weiß. Doch die Hilfe kommt, er hört die rauhen Stimmen der Männer, jedes Wort - er ruft, er schreit, sie müssen ihn gehört haben, sie kommen näher, - jetzt sind sie gerade über ihm, er hört das Schaufeln und erkennt die Stimmen, - er schreit mit aller Anstrengung seiner Lunge, - doch das Geräusch wird schwächer, die Grabenden entfernen sich wieder, immer weiter, immer weiter … Werden sie nochmals wiederkehren oder muß der Unglückliche gleich dem 1888 in Tessin Verschütteten (der schließlich nach 103 Stunden noch gerettet wurde) die fürchterlichen Worte über sich hören, die einem das Blut erstarren machen können: "Was nützt es uns, hier noch länger zu arbeiten, wir kommen auch nächste Woche noch früh genug dazu, den Leichnam auszugraben!" Da ist in der Tat ein rascher Tod einer solchen fürchterlichen Seelenqual vorzuziehen.

Die Unglückschronik weist jährlich eine erschreckende Anzahl von Fällen auf, die das Hinwegfegen von Gehöften und Verschütten von Menschen durch Lawinenstürze betreffen.

Aber sie bedrohen nicht bloß einzelne Höfe an besonders ausgesetzten Punkten, sondern dringen wolfsähnlich auch bis in die friedlichen Dörfer, So riß am Anfang dieses Jahrhunderts eine Lawine das Langschiff der Kirche in Sonntag im Walsertale fort, ebenso wurde die Kirche in Platt im Passeier auf diese Weise wegrasiert. Das größte Unglück dieser Art in jüngster Zeit traf das freundliche Bergwerksörtlein Bleiberg in Kärnten, das vor fünf Jahren durch eine vom Dobratsch niederstürzende Lawine fast zerstört wurde. Die Verwüstung ganzer Ortschaften wird begreiflich, wenn man bedenkt, daß derartige Lawinenstürme oft eine Breite von hundert bis hundertfünfzig Metern haben.

Die dritte Art endlich von Lawinen ist die Grund- oder Schlaglahn. Sie gehört bereits dem Vorfrühling an und tritt ein, wenn Sonnenwärme und Föhn die Decke hartgesessenen alten Schnees bereits unterwaschen und die Unterlage schlüpferig gemacht haben, so daß die wuchtige Masse darauf keinen Halt mehr findet und donnernd abrutscht. Da sie sehr schwer ist, so reißt sie von dem bereits erweichten Bett meist Erde, Gerölle, Wurzelstöcke, Steinblöcke und ähnliches Material mit. Daher hat sie auch den Namen Grundlahn, weil sie Grund und Boden angreift und zum Teil mitnimmt.

Dies verrät sie auch in ihrer Erscheinung.

Während nämlich bei der Windlawine die durchsauste Bahn wie ein Brett glatt geschliffen ist, bezeichnet den Weg der Grundlahn eine dunkle Furche, die man weit hinan verfolgen kann. Dabei beobachtet man, woraus mich Professor Pfaundler aufmerksam machte, oft die Ausbildung einer förmlichen Schneerinne. Der erst herabrutschende Schnee bleibt nämlich an den Rauhigkeiten des Bodens haften, füllt die Vertiefungen aus und legt sich seitwärts in Form von Wänden fest. In dem so gebildeten Schneebette saust dann die nachfolgende Schneemasse mit großer Geschwindigkeit hernieder. Man kann nachher sehr deutlich die Schneerinne von der eigentlichen Lawine unterscheiden. An manchen Stellen wird die Schneerinne durchgerissen und das natürliche Erdreich mitgeschleift, woher dann die schmutzigweiße, von dunkeln Adern durchzogene Färbung der "Lahn" stammt.

Die Schlaglawine ist es, deren weithin hörbares Rollen uns den nahenden Lenz verkündet. Gewöhnlich hat sie ihre bestimmten "Züge", durch die sie abrutscht, um dann im Talkessel oder in tiefer gehöhlten Gräben bis weit in den Sommer hinein liegen zu bleiben und langsam "auszuapern". Da durch solche Gräben auch Regenwasser oder Bächlein abfließen, so wird sie davon bald durchfressen und bildet dann förmliche Schneebrücken und Gewölbe, die man übrigens nur mit Vorsicht überschreiten soll. Schlimm ist es, wenn solche Grundlawinen nach besonders schneereichen Wintern sich sehr groß entwickeln und dann im Riesensturze über ihre gewöhnliche Grenze sich in's Kulturland hinabwälzen, oder wenn sie bei außergewöhnlichen Witterungsverhältnissen, besonders bei Regengüssen, an Orten losbrechen, wo sonst nichts zu fürchten war. Zwar in den Haupttälern, wo, wie z. B. im Inntal, die Niederung durch breite Terrassen oder sog. Mittelgebirge vom steileren Alpenkamm getrennt ist, gelangen die Lawinen selten bis zur Talsohle, sondern laufen sich auf den genannten Stufen aus. Doch kam am Ende der sechziger Jahre der Fall vor, daß eine "Grundlahn" nördlich von Innsbruck über ihr gewohntes Lager hinaussprang, in mächtigem Satze das Mittelgebirge durchraste und ihren verhängnißvollen Lauf schnurgerade auf die Mühlauer Kirche nahm. Zum Glück teilte sie sich kurz zuvor und verlor so ihre Kraft. Man konnte ihren langgestreckten Lauf von der Höhe des Grates bis zum genannten Punkte deutlich verfolgen.

Tritt eine solche Überschreitung des gewohnten Laufes ein, dann widersteht diesen wuchtigen, unaufhaltsamen Massen nicht das festeste Haus, denn die Schneeblöcke, die sie mitführen, sind steinhart und werden durch die Abwärtsbewegung zu förmlichen Eisklumpen zusammengeknetet 4). Wer unter eine solche Grundlahn gerät, ist verloren; die Lawine erstickt ihn zwar nicht, aber sie zerschmettert ihm die Glieder. Unglückliche, die nur zum Teil, also z. B. an einem Fuß oder einer Hand erfaßt und eingeklemmt werden, müssen mit Eisenpickeln herausgehackt werden, so fest ist die Masse. Ihr "Abgehen" geschieht gemeiniglich mit einer solchen Regelmäßigkeit, daß man in einer betreffenden Gegend fast den Tag und die Stunde angeben kann, wann das Ereignis eintritt. Diese Art von Lawinen hat auch ihre bestimmten Namen, z. B. "große Lahn", die "Muttentobel-Lahn", die "Schrambach-Lahn" etc. Da sie durch ihr Abrutschen im Frühjahr ganze Flanken des Gebirges vom Schnee säubert, so wirkt sie in regelrechten Jahren wohltätig auf die Entwicklung des Pflanzenwuchses.

4) Während das Gewicht des Kubikmeters frisch gefallenen Schnees etwa 70 Kilo ausmacht, erreicht die gleiche Menge Lawinenschnees das zehnfache Gewicht.

Um sich gegen Lawinenunglück zu schützen, helfen sich die Gemeinden teils durch Anlage von Bannwäldern, 5) wie dies z, B, im großen Walsertal der Fall ist, wodurch die Kraft der Lawine wenigstens zum Teil gehemmt wird, sowie durch eigene steinerne Schutzbauten, So sieht man einen riesigen Steindamm nördlich von Stuben im Klostertale, hinter welcher Befestigung die niederen Häuser des Dörfleins wie ein Trüpplein Hennen geduckt liegen. - Bei Einzelgehöften errichtet man an bedrohten Lagen häufig hohe Erd- und Steinwälle, sog. Spaltecken, die gegen die Lawinenseite giebeln und so die Gewalt der heranstürmenden Schneemasse teilen und abwenden. Im hintersten Passeiertal hat man "Schneekeller", das sind festgebaute Keller unter dem Hause, in die man sich bei drohender Gefahr flüchtet.

5) Die Erfahrung lehrt, daß steile Halden, wenn sie im Herbst abgemäht werden, den Abgang von Schnee- und Staublawinen fördern, während ungemähte Wiesenhänge durch ihren dürren Graswuchs die daran gefrorene Schneelage festhalten. Noch besser wirken Haiderich-Pflanzungen, am besten die knorpeligen, langnadeligen Bestände der zähen Legföhre. Tiefer unten wäre es Aufgabe der Bannwälder, die Kraft abgehender Lawinen zu brechen. Nur müssen dieselben, wenn der Schutz wirksam sein soll, von Zeit zu Zeit nachgeforstet werden. In der Schweiz hat man auch mit Erfolg zum Pflöcken der am meisten gefährlichen Lawinenzüge gegriffen, damit das Abrutschen nicht Plötzlich, sondern partienweise geschähe.

Doch wir sind mit der Kehrseite des Winters noch nicht zu Ende, Zu den unheimlichsten und gefährlichsten Erscheinungen des alpinen Winters gehört das Schneegestöber, besonders wenn sich der Schneesturm dazu gesellt.

Ich meine nicht das harmlose "Gucksen" oder "Guxeten", welches entsteht, wenn bei heiterem Wetter der scharfe Wind den von den Alpenkämmen weggefegten körnigen Schnee wie Silberwolken durch die Lüfte tragt - die Höhen "rauchen", sagen die Bauern - auch nicht das "Gahwinden" oder "Schneewinden", d. h. das Schneestöbern bei mäßigem Winde, sondern den orkanartigen Schneesturm, der entweder dichtes Gestöber begleitet oder den bereits vorhandenen körnigen Schnee in mächtigen Staubwellen weiterpeitscht. Im Nu ist der sichere Pfad klafterhoch verweht, das Auge sieht nicht zwei Schritte weit; eine unbedachte Wendung - und der matte Wanderer steht ratlos, nach welcher Himmelsgegend sein Ziel liege, da, umsaust vom heulenden Sturm, der ihn mit den spitzen Eiskörnern wie mit einem Hagelschauer überschüttet.

Gegen den eisigen Anprall eines solchen Schneesturms schützt nicht der dickste Loden, der festeste Mantel. Der feine Schneestaub dringt durch alle Poren, nimmt den Atem und erstarrt alle Glieder. Dazu kommt noch, daß das Vorwärtsschreiten in diesem zusammengetragenen Schnee, wie das Gehen im Sande, ungemein ermüdet, besonders wenn der Wind entgegenweht. Glücklich, wenn das "Stäuben" und Stöbern zeitweilig nachläßt und eine Zurechtfindung nach den Höhenzügen gestattet. Deshalb sind auf windigen Joch-Übergängen und Gebirgssätteln von Strecke zu Strecke hohe Stangen eingerammt, welche die Richtung kennzeichnen. Trotzdem gehen oft genug Vieh und Leute auf diese Weise zu Grunde. Gefürchtet in dieser Beziehung sind besonders die Tauernübergänge, auf denen Schneestürme fast jährlich ihre Opfer fordern.

Aber selbst das gewöhnliche Schneegestöber ohne Wind kann für den Wanderer verhängnißvoll werden, und ich könnte da aus meiner eigenen Erfahrung für denjenigen, der solches nicht erlebt hat, Unglaubliches erzählen. Es ist erwiesenermaßen öfter vorgekommen, daß Leute bei heftigem Schneegestöber nach einem fünf - sage fünf Minuten - weit entfernten Orte nicht gelangten und nach stundenlangem Herumirren wieder an ihrem Ausgangspunkt sich befanden. Die gleiche Erfahrung kann man bei eintretendem Nebel machen. Gegen solche Vorkommnisse schützt nur ein Mittel, die Bussole.

Quelle: Ludwig von Hörmann, Das Tiroler Bauernjahr, Jahreszeiten in den Alpen, Innsbruck 1899, S. 158 - 174.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Mag. Renate Erhart, Dezember 2005.
Rechtschreibung behutsam neu bearbeitet und auf den aktuellen Stand gebracht.
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