Die Zeit der Dreißigen.
von Dr.
Ludwig von Hörmann.
Wer je einmal länger mit tirolischen Bauern verkehrte oder in einem tirolischen Dorfe zur Sommerfrische sich aufhielt, der hörte gewiß oft von der heiligen Zeit der Dreißigen reden. Es sind dies die vier Wochen zwischen dem sog. großen Frauentage d. i. Maria Himmelfahrt (15. August) und dem kleinen Frauentage d. i. Maria Geburt (8. September). Alle Hausmittelkräuter, Blumen und Wurzeln, die man zu Tee und Medizin oder zu anderem Hausgebrauche nötig hat, werden vorzüglich in den Dreißigen gepflückt, denn man glaubt, daß in dieser Zeit ein dreifacher Segen auf allen Gewächsen der Erde liege, welche den Menschen nützlich sind, folglich auch die heilsame Wirkung derselben eine dreifache sei. Die alten Mütterchen, welche "doctern," wissen hunderte von Beispielen zur Bekräftigung anzuführen, daher ist keine Wiese im Lande, wo an diesen Tagen nicht gesammelt wird. Man beginnt dieses Geschäft am Vorabende des hohen Frauentages und zwar nach dem Feierabendläuten, denn nach demselben geht schon der Feiertag an. Die gesammelten Kräuter werden zu Büscheln, den sog. Weihebüscheln, auch Mechtildenkränze genannt, gebunden und entweder auf den Altar vor das Bildnis der unbefleckten Maria gestellt oder zum festtäglichen Vormittagsgottesdienst mitgenommen, wo der Priester die feierliche Weihe derselben vornimmt. An vielen Orten wird die Kräuterweihe erst um Maria Geburt abgehalten, was den Bauersleuten viel lieber ist, weil sie dann das Sammeln mit Muße während der ganzen Zeit des Frauendreißigst vornehmen können. Solcher Weihekräuter gibt es eine große Anzahl, meistens sind es wohlriechende oder durch Gestalt und Farbe bedeutungsvolle Pflanzen. Die "vornehmsten" darunter sind: Himmelbrand, Frauenschuh, Wegwart, Mohn, brennende Lieb', Rauten, Wermut, Wohlgemut, Mutterkraut, Kamillen, Karwendel, Sinngrün, Tausendgüldenkraut, Donnerkugeln (Stechapfel) und Baslgoam (Basilikum). Ein alter Spruch sagt:
"Tausendgüldenkraut und Baslgoam
Treibt die Milch von die Jöcher hoam."
Blühender Bauerngarten im Navistal, Tirol
Traditionell befinden sich die Blühpflanzen am Rande und die Nutzpflanzen
in der Mitte eines Bauerngartens
©
Wolfgang Morscher, 4. September 2005
Die schöne Blume "Einhanggen" (Einhacken), eine Art Lauskraut, gilt für so heilig, daß es heißt, sie erhalte die Weihe ohne Priestersegen. In früherer Zeit steckte man auch eine gedörrte Dreißigenkröte in den Büschel, sowie die doppelte Wurzel der Veitsblume (Brunelle), Alraunwurzeln und Beifuß (Wermut), den man acht Tage vor oder nach Bartholomä um Mitternacht ausgrub, und trieb damit allerlei Schwarzkünste. Die geweihten Büschel werden sorgfältig das ganze Jahr aufbewahrt. Man steckt sie im Estrich unter das Dach zum Schutze gegen Blitz und Feuersgefahr oder ziert damit das Kruzifix in der Stubenecke. Wenn Gewitter und Hagelschlag droht, und durch das Sausen des Sturmwindes die Wetterglocke tönt, dann legt die Hausmutter vertrauensvoll einen Teil der getrockneten Kräuter auf die Herdglut und während der Rauch emporsteigt, kniet sich alles nieder und betet in festem Glauben auf die kräftige Hülfe desselben. Auch gegen die unheimliche Macht der Hexen sind solche Kräuter ein wirksames Mittel, ferner gebraucht man sie gegen den "Abfraß" (Engerlinge) in Gärten und Feldern, sowie als Arznei für Menschen und Vieh.
Eines kaum minder großen Rufes erfreuen sich die Dreißigenkröten, Hotten oder Höppinnen genannt. Besonders macht man auf die dunkelrötlichen mit schwarzen Flecken besäten Jagd, tötet sie und stellt sie an einen Stock gesteckt auf das Dach zum Dörren. Dann stößt man sie zu Pulver. Schüttet man davon in die Medizin, so wird der Kranke unfehlbar gesund, sei er auch mit was immer für einem Übel behaftet. Besonders schnell soll es die "Wildniß" (Rothlauf) heilen. Wenn beim Schlägeln die Butter nicht "zusammengehen" will, streut man solches Krötenpulver in die Milch. - Guten Appetit -! Häufig sieht man auch solche Dreißigenkröten auf Stalltüren aufgenagelt als Schutz gegen Hexereien und Viehkrankheiten. Als Heilmittel für Kühe verwendet man auch oft das Fell der im Frauendreißigst gefangenen Wiesel; es wird nämlich damit das kranke Euter gerieben. Man sieht aus dem Gesagten, daß der Bauer der Zeit des Frauendreißigst eine ganz besondere Wichtigkeit beilegt. Es ist dies auch sehr erklärlich, da ihn das vollständige Gedeihen und Einbringen der Feldfrüchte abwechselnd mit Hoffnung und banger Sorge erfüllen muß, welche unklaren Gefühle sich freilich oft in seltsamer, an das alte Heidentum erinnender Weise offenbaren. In diese Zeit fallen auch eine Menge Loostage und Wetterregeln; besonders sieht man das Fest Maria Himmelfahrt gern schön und prophezeit daraus ein gutes Weinjahr.
"Maria Himmelfahrt klar Sonnenschein
Bringt gern viel und guten Wein."
Von besonderem Wert sind, was ich noch schließlich erwähnen will, den Bäuerinnen die Dreißigen-Eier, d. h. solche, die in dieser Zeit gelegt werden. Sie sollen nämlich nicht faulen. Deshalb bringt man sie nicht zum Markte, sondern behält sie für den Winter auf.
Quelle: Ludwig von Hörmann, Die Zeit der
Dreißigen., in: Der Alpenfreund, Monatshefte für Verbreitung
von Alpenkunde unter Jung und Alt in populären Schilderungen aus
dem Gesammtgebiet der Alpenwelt und mit praktischen Winken zur genußvollen
Bereisung derselben. HG Dr. Ed. Amthor, 4. Band, Gera 1872, S. 188 - 189.
Rechtschreibung behutsam neu bearbeitet und auf den aktuellen Stand gebracht.
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