Die Seefelder Ameishexen. [Ameisenhexen]
von Dr. Ludwig von Hörmann.

"Mein Gott! Es ist wohl ein armes Ort, meine Heimat, und man muß wohl recht "g'sparig" leben, wenn man d'raus kommen will!" So klagte mir oft die Zenz, die Kaffeeköchin im deutschen Kaffeehaus zu Innsbruck, wenn sie wieder von einem Holzbauern aus dortiger Gegend Nachricht von ihren Leuten erhalten hatte. Und es ist auch wahr. So oft ich durch das unwirsche Scharnitztal zog, kamen mir stets diese Worte in den Sinn. Bei "drei Vierteljahr Winter und ein Vierteliahr kalt" ist Heu, Hafer und Erdäpfel beinahe alles, was wächst, höchstens daß der Langesroggen reift, wenn das Jahr gut ist und die Spätkirsche im August hie und da zeitigt. Weizen und Türken muß gekauft werden, gewöhnlich im benachbarten Hochbaiern. Die Männer gehen tagwerken in's Holz, die Weiberleute besorgen die Feldarbeit und wirken und spinnen, denn "der Haar" gedeiht gut daselbst und bringt manchen Groschen in's Haus. Auch Holz wird manches Fuder nach Spruck (Innsbruck) geführt, um die Steuerkreuzer herauszuschlagen, freilich nur zu oft auf Kosten des Waldkapitals, das in trostloser Weise mit jedem neuen Winter zusammenschmilzt.

Trotzdem sind diese Leutchen außerordentlich zufrieden und zieht man durch diese Gegend, so hört man aus allen Hölzern und Waldungen mit heller Stimme singen und jodeln, daß es eine wahre Freude ist. Es sind teils Mädchen, die Holz suchen, teils - Amashexen. Letzteren wollen wir etwas mehr Aufmerksamkeit zuwenden; ihre Beschäftigung erklärt zugleich den etwas unverständlichen Namen und rechtfertigt ihre lumpige Erscheinung. Diese Leute, gewöhnlich sind es Mädchen, befassen sich nämlich mit dem Sammeln der sogenannten Ameiseneier, respektive der Puppen derselben, allen Vogelliebhabern wohl bekannt als bestes Futter für die gefiederten Arrestanten. Weil sie zu diesem mühsamen Geschäfte die schlechtesten Kleider anziehen und zerlumpt aussehen, so nennt man sie Amashexen, wenn man nicht hecksen als ähnlichen Ausdruck wie feksen [fe..sen? kein Schriftbild], gleich einheimsen nehmen will.

Die Gegend von Seefeld, von Wäldern durchzogen und umgürtet, ist sehr ameisenreich. Vielleicht auch, daß der bituminöse Grund dazu beiträgt. Besonders ist es die Formica rufa, die braunrote Wald-Ameise, deren Puppen man nachspürt. Sie baut ihre Wohnung aus Nadelholz und Reisig und lebt geselliger als ihre größere schwarzbraune Schwester, die Roh- und Holzameise, die sich mehr isoliert und weniger Brut aufweist. Auch die kleine Gartenameise taugt wegen der Kleinheit der "Eier" nicht so gut als die Erstgenannte. Das Einsammeln der Puppen bildet nun einen ganz einträglichen Erwerbszweig der Seefelder; zugleich ist die Art und Weise der Gewinnung ganz originell und mit Findigkeit ausgeführt, daß sie wohlverdient, bekannt gegeben zu werden.

Für's Erste suchen sich die Amashexen ein Ort aus, wo fließendes Wasser ist. An dessen Ranfte wird eine Rundung im Durchmesser von beiläufig zwei Schuhen mit einem kleinen Graben umgeben und in diesen das Wasser ein- und herumgeleitet, so daß es beim Ausgang wieder ins alte Bett fließen kann, also gewissermaßen eine Insel bildet. In der Mitte dieses abgeschlossenen Platzes werden eine oder mehrer flache Gruben von Handhöhe gegraben, wozu werden wir gleich sehen. Der Platz muß überdies in sonniger Lage sich befinden, gewöhnlich nicht zu weit vom Dorfe entfernt. Nun gehen die Amashexen in den Wald, wo sie schon ihre bestimmten Bezirke haben, von denen sie wissen, daß daselbst viele Ameisen vorkommen. Ihr Werkzeug ist eine Schaufel oder Kelle und ein leinener Sack. Manchmal haben sie auch ein Paar grobe Handschuhe bei sich, um sich vor den Bissen der beraubten Tiere teilweise zu sichern. Schon in aller Früh um zwei oder drei Uhr brechen sie auf, da sie oft in weiter entfernte Bezirke müssen um ihre Beute zu finden.

Treffen sie nun auf einen geeigneten Ameisenhaufen, so streifen sie zuerst vorsichtig mit der Schaufel oder einem Stück Holz die Nadeloberdecke herab, bis schneeweiß das Eiernest vor ihnen liegt. Sind die Puppen mehr zerstreut, so wird einfach der ganze Ameisenhaufen in den Sack geschöpft. Haben sie so mehrere Haufen ausgenommen, was bis gegen Mittag dauert, dann gehen sie zum oben genannten separierten Platz und schütten dort die Ameisen mit den Eiern aus. Die Grübchen werden mit Taxen zugedeckt, damit es darunter kühl und schattig ist. Kaum ist dies geschehen, so sind auch schon die Ameisen in größter Tätigkeit, um die Eier in diese Grube zu tragen. Es ist wirklich rührend, mit welcher Geschäftigkeit diese Tierchen die anvertraute Brut so schnell als möglich in Sicherheit zu bringen suchen. Besonders wenn das Wetter hell ist, beeilen sie sich, bei trüber Witterung oder nahendem Gewitter sind sie lässiger und "tragen schwer."

Arme Geschöpfe, ihr arbeitet eurem Räuber in die Hände!

Denn kaum dämmert der Abend, so naht sich schon der stärkere Mensch und raubt mit unbarmherziger Hand die gesammelten Eier in das mitgebrachte Behältnis. Dann wird das Wasser ausgelassen, respektive der Eingang des Wassergrabens verstopft, damit die betrogenen Tiere abziehen können. Tags darauf ist die ganze Kolonie weg, höchstens daß noch da und dort eines dieser armen Tiere im Schlamme mit den Hinterfüßen kleben bleibt.

Zu Hause angelangt, werden die Eier auf einem Leintuche ausgebreitet und von den anhängenden Nabeln gereinigt. Um die noch mitgebrachten Ameisen wegzubringen, wird noch ein Tuch darübergedeckt, welches etwas rauher ist. An letzteres hängen sich die Tierchen und werden dann entfernt, indem man die Decke ausschlenkert. Dies geschieht auf einem freien Platze, meistens auf dem Rasen hinter dem Hause. Nach dieser Säuberung werden die zurückgebliebenen Eier auf längliche Bretter ausgebreitet und damit sie nicht naß werden in dem gedeckten Söller, der sogenannten Sommerlaube, an der Sonne gedörrt. Dort bleiben sie die Woche über liegen. Das Sammeln beginnt nämlich bei entsprechender Witterung am Montag, so daß die Eier am Samstag zum Verkauf kommen können. Samstag wird schon in erster Morgenstunde aufgestanden und Kaffee gekocht, denn bis Innsbruck ist ein weiter Weg. Gewöhnlich schließen sich die Verkäuferinnen an die Holzbauern an, die ihre Holzfuhren zum Wochenmarkt in die Stadt bringen; so haben sie Geleit und brauchen ihre Reuter mit den Eiern nicht zu tragen. Auf dem Markte werden die Eier maßelweis verkauft. Das Erträgnis ist ziemlich gut, so daß sich manche Dirnen an einem guten Tage oft zwei Gulden heraussammeln. Dafür werden meistens beim Bederlunger in Innsbruck Kleidungsstücke gekauft, und wenn man dann am Sonntag diese schmuck ausgestatteten drallen Dirnen sieht, so würdest du, freundlicher Leser, schwerlich mehr die "zuseligen" Amashexen erkennen. ("Presse.")

Quelle: Ludwig von Hörmann, Die Seefelder Ameishexen. In: Innsbrucker Nachrichten, Nr. 217, 21. September 1872, Beilage.
Rechtschreibung behutsam neu bearbeitet und auf den aktuellen Stand gebracht.
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