Montafon.
Wer in Bludenz, als einem Knotenpunkte der Arlbergbahn, aussteigt, um auf einige Tage die Naturreize dieses Walgaustädtchens zu bewundern, wird in Verlegenheit sein, wohin er zuerst seinen wanderlustigen Fuß wenden soll. Denn vom Norden winkt ihm das ahornreiche Walserthal [Walsertal], gegen Westen lockt der Rebengarten des Walgaus, gegen Süden aber zieht ihn verführerisch das romantische Brandnerthal [Brandnertal], die stille Bergeinsamkeit des Lünersees und endlich Montavon [Montafon], die wald- und almengesegnete Heimat der vorarlbergischen Ill. Dahin wandern wir. Was Auge und Herz im Hochpark der Alpenwelt zu sehen begehrt, das findet man in diesem Gebirgswinkel vereint. Dazu kommt noch die Eigenart eines höchst originellen Völkchens, das, obwohl von seiner Lippe das deutsche Wort sprudelt, doch in Körperbildung, Wesen und Sitte noch die Grundzüge seiner rätoromanischen Abkunft bewahrt hat.
Dieses Tal nun, das unsere Landkarte Montavon [Montafon], die Eingeborenen aber Muntafun nennen, nimmt an der Alfenzbrücke eine halbe Stunde außer Bludenz seinen Anfang und erstreckt sich in einer Ausdehnung von beiläufig 10 Stunden in südöstlicher Richtung bis zu den Eisfeldern des Jamthaler Ferners. Dort reicht es dem tirolischen Paznaunthal [Paznauntal] über den großartigen Sattel der Bielerhöhe die Hand. Seine kurzen nach Süden streichenden Querfurchen leiten bis zu dem gewaltigen Gebirgskamm des Rhätikon, der Vorarlberg vom schweizerischen Prättigau scheidet.
Schon der Eingang ins Montavon [Montafon], der sich beim Zusammenfluß der vom Klosterthal [Klostertal] herauskommenden Alfenz mit der Ill befindet, ist höchst wirksam. Eine enge Schlucht scheint den Eintritt in diese Alpengegend verwehren zu wollen. Kaum daß die Straße neben der rasch daherflutenden Ill Platz findet, so eng schieben sich die grauen Felswände zusammen. Bald jedoch erweitert sich das Tal und wir erblicken ein kleines Kirchlein mit rotem Kuppelturm nebst einigen Häusern, St. Antöni genannt. Das Dörflein mit seinen zwei guten Gasthäusern (Adler und Schäfle) liegt auf einem breiten Schutthügel zerstreut, dem über grünten Trümmerwerk eines grandiosen Bergsturzes, der vor Zeiten vom Schwarzjoch sich loslöste und der Sage nach die volkreiche, aber sündhafte Stadt Prazalanza verschüttet hat. Da die Burg nirgends mehr zu sehen, wohl aber das St. Antonikirchlein von einem Herrn Otto von Zalanz gegründet ist, sein soll, dürfte die Ableitung des Namens von Pra de Zalanz, d.h. Wiese von Zalanz nicht zu gewagt sein. Hinter der Kirche rauscht ein artiger Wasserfall herab. An diesem vorbei führt ein äußerst anmutiger Weg in anderthalb Stunden zum darüber liegenden Bartholomäberg, im Volksmunde schlechtweg Barthlemäsberg genannt, von dessen weitschauender Kirche man eine entzückende Sicht auf die blendend Weißen Zinken des Rhätikon mit der stolzen Scesaplana (an 3000 m Meerhöhe) genießt. An brennroten Berberitzensträuchern und schwarzbeerigen Holunderbüschen vorbei schlendern wir weiter und schauen die kaffeebraunen Blockhäuser an, die sich mit ihren blumengeschmückten Fenstern vom saftgrünen Hintergrunde allerliebst abheben. Bei einer Holzbrücke zweigt der Weg nach Vandans ab. Die ersten Häuser dieser Ortschaft erscheinen schon früher, jenseits der Ill, aber der Kern des langgestreckten Dorfes liegt noch ein gut Stück taleinwärts. Wir wandern Schruns und Tschagguns zu. Schon von Weiten erblickt man die auf einem Vorsprung erbaute schöne Kirche dieses letztgenannten Ortes und hört das prächtige Geläute ihrer Glocken ans Ohr tönen. Das Dorf selbst liegt am Fuße des von freundlichen Gehöften bedeckten Ziegerberges, gerade unter der Mittagsspitze und der Sulzfluh, an deren Schneescheitel vorbei der Pfad durch das Drusenthor [Drusentor] ins Prättigau führt.
Am rechten Ufer der Ill, von Tschagguns durch die Brücke getrennt, lagert sich der Hauptort des Montavon-Thales [Montafon-Tales], das freundliche Schruns. Da es in einer kleinen Bucht des Silberthales [Silbertales] liegt, so kann man es von der Hauptstraße aus erst ersehen, wenn man fast davorsteht. Mit der schönen neuen Pfarrkirche und den stattlichen Steinhäusern, die sich neben den älteren Bauerngehöften ganz vornehm anschauen lassen, macht es fast den Eindruck eines kleinen Städtchens. Auch an guten Gasthäusern, ist es gesegnet. Alles Grund genug, hier ein Stündchen zu verweilen und sich für den Weitermarsch zu stärken. Vor der Brücke, die sich über die Litz spannt, stehen Adler und Krone und jenseits derselben winkt der stattliche Gasthof zur Taube, in einem grünen Anger unweit davon der vortreffliche Stern und "dort wo die letzten Häuser stehen", der Löwe, das allbekannte fröhliche Touristenheim. Wie freundlich sitzt es sich da am Spätnachmittag unter dem Leinwandzelt vor der Haustüre, oder wenn es kühler wird, im traulichen Hinterstübchen. Da klingt oft bis spät nach Mitternacht fröhliches Geplauder und Rundgesang, wenn etwa einige lustige Wandervögel hier eingeflogen sind, um bei köstlichem Wein und braunem "Millionenwasser" sich von den Reisestrapazen zu erholen. Unter letzterem Getränke ist das Bludenzer Bier gemeint. Wollte Gott, ich hätte das Geld, das diese kühlende Mixtur den Erzeugern eingetragen hat. Es ist übrigens ein ganz ausgezeichnetes Gebräu und erfreut sich mit Recht eines guten Rufes.
Schruns ist für Montavon [Montafon] ein Knotenpunkt der verschiedensten Ausflüge und, wer das Tal durchstreifen will, tut Wohl, sich hier auf einige Tage einzunisten, um so mehr, als wie gesagt, die Unterkunft nichts zu wünschen übrig läßt. Ein Morgenspaziergang ins Silberthal [Silbertal] den schäumenden Litzebach entlang, der wie ein mutwilliges Füllen daher gestürmt kommt und über die bemoosten Felsblöcke setzt, gehört zu den schönsten Genüssen, die den Schrunser Gast erwarten. Wessen Zeit kurz bemessen ist, der scheue den kleinen Aufstieg zum Kapuziner-Hospiz Gauenstein nicht, das über der gleichnamigen "Pension" westlich von Schruns an der waldigen Halde klebt und mit seiner geschindelten Front und seinem Giebeldach fast einem Schweizerhäuschen gleicht. Wer ein kummerbeladenes Herz hat, der trage es hinauf in den Frieden dieser Waldeinsamkeit, wo der würzige Tannenduft Auge und Lungen stärkt, die Sonne früh Morgens in die Zellen scheint und Finken und Amseln den Schlummer aus den Augen singen. Unten liegt wie ein Teppich der liebliche Talboden mit dem geschäftigen Treiben des Alltagslebens. Da hallt abgedämpft das Klappern der Mühlräder herauf, das Surren der Brettersäge, der melodische Klang der Schmiedhämmer. Rings herum aber leuchten von allen Seiten die saftigen Bergmähder mit dem klingenden Alpenvieh und darüber die zauberische Pracht des Hochgebirges.
Das herbstliche Montafon, Blick
von Bartholomäberg
© Berit Mrugalska, 18 Oktober 2005
Noch schöner ist die Aussicht auf dem höher gelegenen Bartholomäberg, der mit Häusern, darunter die reizend gelegene Wirtschaft Montjola, ganz gespickt ist und mit seiner weithin sichtbaren Kirche das ganze Tal beherrscht. Der Gang dahin, der sich mit dem erstgenannten leicht verbinden läßt, ist auch noch in anderer Hinsicht sehr lohnend. In erwähnter Kirche befindet sich nämlich ein kunstvoller gotischer Flügelaltar vom Jahre 1255, einer der schönsten, die mir je vorgekommen sind. Wie eine Inschrift sagt, wurde er im Jahre 1851 in glücklicher Weise renoviert. In der Mittelnische sind in kunstvoller Schnitzarbeit die heiligen drei Könige vor dem Christuskinde darstellt, der linke Flügel zeigt u.a. den heil. Christophorus und den Walserheiligen Theodul mit einem Hammer auf der Schulter und einer Erzstufe in der Hand; zu des letzteren Füßen kauert ein schwarzfarbiger Teufel mit einer Glocke. Noch eine Merkwürdigkeit birgt die Kirche oder besser gesagt der Pfarrwiddum, nämlich ein uraltes, massives Emailkreuz mit eingefügten bohnengroßen "Edelsteinen". Leider war, als ich es besichtigte, der Pfarrer, der es verwahrt, nicht zu Hause; er könnte, wie mir die Häuserin versicherte, über sein Alter und seine Herkunft genaue Auskunft geben, ebenso über den gotischen Altar, über den ich sonst fast keine Notiz finde.*) Der größte und schönste gotische Altar aber, den Barthelmä besitzt, bleibt immer die gewaltige Zimbaspitze, die sich jenseits des Tales rechts von dem Eisfelder Scesaplana kühn ins Blaue hebt, ein ehrfurchtgebietender Anblick. Um ihn voll genießen zu können, hat sich der kluge Herr Pfarrer über seinem idyllischen Widdum eine kleine Sommer-Veranda angelegt, welche Kaiserloge er gewiß mit keinem Fürstenthron vertauschen möchte.
*) Vgl. Denkschriften der kaiserl. Akad. der Wissenschaft Bd. IV, S. 46 und Rechenschaftsbericht des ... Vorarlberg" Museum-Verein. XIX. (1879) S. 60.
Sollen wir nun wieder nach Schruns hinunter oder ist es, weil wir schon einmal in dieser luftigen Höhe sind, nicht vernünftiger an dem sonnigen Gelände östlich weiter nach Innerbarthlemä zu gehen, von da zum uralten Agathakirchlein auf dem Kristberge zu klimmen und dann durchs holzreiche Silberthal [Silbertal] unsern Abstieg zu nehmen. Der heutige Tag ist doch zur Weiterwanderung ins tiefere Montavon [Montafon] zu kurz und Gegend und Leute hier sind, aller Beachtung wert. Den Weg nach Innerbartholomä oder Innerberg macht man bequem in dreiviertel Stunden. Er ist sehr abwechslungsreich und leitet bald an goldgelben Kornfeldern und schattigen Baumgruppen, bald an freundlichen Gehöften vorbei in mäßiger Steigung aufwärts zum schlichten kleinen Kirchlein. Es besitzt ganz hübsche Altarbilder nebst einer schön gearbeiteten Kanzel. Ein kleiner Friedhof, dessen Kreuze über die halb zerfallene Umfassungsmauer nach Osten schauen, umrahmt den spätgotischen Bau. Daneben steht der schlichte Widdum. Ein paar andere Gehöfte, vor denen bausbackige Kinder und gackernde Hennen herumtrippeln, bilden den Rest des stillen Weilers. Etwas außerhalb des Ortes befindet sich seit einigen Jahren eine Wirtschaft. Von Innerberg führt ein schattiger Weg über den Kristberg in einer Stunde nach Dalaas im Klosterthale [Klostertal].
Da wir diesen Übergang später von letztgenanntem Orte aus machen, so steigen wir für heute die mäßig steile Böschung ins Silberthal [Silbertal] hinab.
Von da können wir auf dem neuen Sträßchen bequem nach Schruns marschieren. Ein Glück, daß die Verbindung nun eine bessere ist, denn auf dem früheren schlechten Fahrweg kostete es oft Mühe, die schweren Holzlasten dahin zu befördern. Von Schruns werden die "Museln" per Achse nach Bludenz geführt und mittelst Bahn in die - Schweiz verfrachtet. Noch einmal werfen wir einen Blick zum Agatha-Kirchlein hinauf, das vom Kristberg ins dämmernde Tal sieht, dann aber lenken die müden Schritte dem "Löwen" zu, wo wir unsere hungrigen Mägen der Obsorge der verschiedenen Heben, den gutmütigsten Seelen des ganzen Montavonerthales [Montafonertales], anvertrauen. In diesem renommierten Gasthofe, das jetzt einen Herrn Schwarzhaus zum Besitzer hat, gibt es abends immer etwas zu sehen und zu hören. Während die touristische haute volée im neuen prächtig getäfelten eleganten Speisesalon unter geistreichen Gesprächen ihren Abendtee schlürft, setzen wir uns in die trauliche "Bauernstube" und plaudern mit den Ortsgästen, die sich hier einfinden. Da kommt der gemütliche "Richter" und trinkt sein Schöpple "Tiroler", der Meister so und so findet sich ein und auch der Gastwirt selbst setzt sich an unseren Tisch. Nur nicht vornehm gelächelt! Diese "Bauernstube" hat auch schon "bessere" Leute gesehen und Gelehrte ersten Ranges, ja sogar Minister und andere "Excellenzen" verschmähten es nicht am alten, achteckigen schön eingelegten Ahorntische Platz zu nehmen und unter ernstheitern Gesprächen Bücherstaub und Regierungssorgen zu vergessen. In besonders angenehmer Erinnerung lebt für manchen Gast die Zeit, als noch der Wirth Josef Durig mit der sanftmütigen "Frau Elise" des Amtes waltete. Er war der Typus eines echten Montavoners [Montafoners] und wußte als eingeborenes Talkind von Land und Leuten Bescheid. Mit freundlicher Bereitwilligkeit gab er Aufschlüsse über die wirtschaftlichen Verhältnisse Montavons [Montafons], über das Bodenerträgnis und über den Viehhandel, der die Haupterwerbsquelle des Tales bildet. Sagt doch schon der alte Guler in seiner Chronik über Montavon: "Diß ist ein Vieh- und molkenreich Thal" und der jährlich am 21. u. 22. September abgehaltene große Schrunser Viehmarkt ist von Schweizern, Baiern, Schwaben und Italienern stark besucht. Auch vom Volk selbst wußte er zu erzählen, so von der Wanderlust der Bewohner, die als Maurer, Gipser und Sensenhändler im Frühling nach der Schweiz und Frankreich wandern und im Herbst mit dein Täschchen voll gelber Napoleone wiederkehren. Von den Mädchen gingen früher viele als Schnitterinnen und Ährenleserinnen ins Schwabenland und fuhren nach Beendigung der Ernte mit ihren Säcken "Schwabenkorn" singend in die Heimat zurück. Die interessantesten dieser Wandervögel sind jedenfalls die Krautschneider, die Ende September, wenn die Krautköpfe zum Schnitte reif sind, in grauer Joppe und grünem Tirolerhut in alle Welt ziehen und den Hausfrauen am Rhein und an der Donau mit ihren sechsmesserigen Hobeln das Kraut schneiden. So erfährt man am Wirtstisch manches, was man aus Büchern nicht lernen kann. Am besten ist es freilich, man schaut sich die Dinge selbst an, drum suchen wir für heute unsere Betten auf, um morgen die Wanderung fortsetzen zu können.
Die nächste Station ist St. Gallenkirch, das man in anderthalb Stunden
erreicht. Bietet der Weg auch keine besondere Pikanterie, so lohnt dafür
der Anblick der domartigen Valülaspitze, die aus dem Talhintergrunde
uns entgegenschaut, und der Rückblick auf die sonnigen Fruchtgelände
des Barthlemäberges. Die Gegend ist nicht einsam; Haus an Haus belebt
fast ununterbrochen den Marsch und die vielen Kirschbäume geben beiderseits
ein freundliches Geleite. Bei der sogenannten "Fratten", welches
Wort vielleicht dem lateinischen fractus
*) entstammt, verengt sich die Straße und steigt zugleich. Riesige
Steinblöcke liegen am Illufer zerstreut, die Gegend wird rauher,
die Feldungen seltener. Endlich wird St. Gallenkirch sichtbar;
*) Vgl. auch Ital. Fratta = Zaun und forata =
Höhlung, Tobel.
es liegt auf einer riesigen Schuttablagerung des Zamangtobels und präsentiert sich mit seiner großen Kirche und den schon gruppierten Häusern ganz malerisch. Rechterhand stürmt aus dem Gargellenthale [Gargellental] der weißschäumende Enggedinbach der Ill zu, daß man glaubt, er reiße die gedeckte Holzbrücke mit. An einem Pfeiler derselben ist eine Gedenktafel an den hier verunglückten sechsjährigen Johann Anton Zugg angenagelt mit der Inschrift:
Hier an der Ill
O Wandrer steh still
Und betracht des Todes (!) End und Ziel.
Der lieben Eltern volles Hoffen
Ist hier in der Ill ers.....
Das Schlußwort ist unleserlich. Es wird Wohl wahrscheinlich - "ertrunken" gelautet haben. Eine zweite, nicht weit außer Gallenkirch an einer Gnadenkapelle, lautet:
Dieweilen ich meine zueflucht zu Maria genommen
Bin ich wieder zu meiner gesondheit khomen. 1764.
Mehr als dieser poetische Erguß interessiert uns das dazu gehörige Bild, das uns die alte Montafoner Tracht zeigt. Der bäuerliche Votant trägt einen bläulichen Rock mit langen Schößen, eine hochrote Weste mit schwarzen Hosenträgern, kurze schwarze Lederhose und wulstige weiße Strümpfe, ähnlich wie sie noch die Tiroler Alpacher Weiber tragen. Um den Hals schlingt sich ein bauschiges schwarzes Tuch. Als Ergänzung zeigt sich auf einer Votivtafel nebenan vom Jahre 1771 die damalige weibliche Montavoner Tracht: Hochroter Rock und gleichfarbiges Mieder, darüber ein blauschwarzes Halstuch, lichtblaue Schürze und weißes Hemd mit bauschigen Ärmeln. Daneben kniet eine ältere Frauensperson mit schwarzem Rock. Man muß indes solche Votivtafeln als Quelle für Trachtstudien sehr vorsichtig benützen. Nicht selten sind derartige Bilder von Leuten aus umliegenden, oft sehr entfernten Tälern anher gespendet, bieten also nicht die Tracht des Gnadenortes, sondern die des Tales, wo der Votant seine Heimat hat.
Überhaupt ist für derartige Forschungen genaue Erwägung aller Umstände und Verhältnisse, welche Volksleben und Volkssitte beeinflussen, sehr notwendig, wenn man nicht Fehlschlüsse machen will.
Fast unmittelbar vor St. Gallenkirch mündet südlich ein grünes Hochtal aus, das den bescheidenen Namen Gargellen trägt, aber erst in neuester Zeit bekannter geworden ist. Falls einmal der Fahrweg besser hergestellt ist, dürfte es sicher eine schöne Zukunft haben. Durch dieses Tal, das über das romantische Schlapinerjoch ins schweizerische Prätigau führt, wurde früher mit Saumrossen der edle Veltliner nach Vorarlberg gebracht. Jetzt fährt einmal des Tages die Post, so daß selbst Fußschwache die Gegend und die kräftigende Luft dieser "Hochgebirgseinsamkeit" genießen können. Zum Gehen braucht man von St. Gallenkirch aus bis zur Ortschaft Gargellen drei leichte Stunden, doch ist der Weg, wenn man einmal die erste Talstufe bei der Rüttikapelle erstiegen hat, nicht mehr beschwerlich. Im Gasthaus "Zur Madrisa", das von der sich darüber erhebenden imponierenden Madrisaspitze seinen Namen hat, ist man gut aufgehoben.
Wenn wir im Haupttale weiterwandern, so gelangen wir in dreiviertel Stunden nach Gortipohl, (curtis Pauli), dem "Gehege des Paul" Paulshof. Es ist die Zwischenstation von St. Gallenkirch und dem reizenden Gaschurn. Das kleine reinliche Kirchlein besitzt schöne Altarbilder und eine hübsch geschnitzte Kanzel, aus der eine Hand ein Kruzifix herausreckt, gerade so, als ob der Geistliche im Bauch der Kanzel versteckt kauern würde. An der Außenseite des Kirchleins appelliert der heil. Nikolaus an die Mildtätigkeit der Vorübergehenden:
Jede große, jede kleine Gabe
Jederzeit ich noch vergolten habe!
In Anhoffung, daß der "heilige Mann" Wort halten werde, werfen wir ihm ein paar Kreuzer in den massiven Opferstock daneben, dann schauen wir uns die Gasse von Ziegenställen und sporadischen Blockhäusern etwas an. Sie sind fast sämtlich nach dem gleichen alemannischen Styl [Stil] gebaut, ähnlich wie wir sie längs des ganzen Weges gesehen. Auffallend ist nur, daß sie nicht an der Front, sondern an der der Innenseite des Tales zukehrten südlichen Flanke den Eingang haben und zwar an einem schmalen zurückstehenden Anbau, über den sich das gemeinsame Dach streckt. An der anderen Flanke talauswärts ist dem genannten Anbau entsprechend ein schmaler sogenannter Holzschopf zur Aufbewahrung des Holzes angelehnt. Diese scheinbare Abweichung vom gewöhnlichen Häusertypus hat seinen Grund in nichts Anderem als im heftigen von Norden kommenden "Thalwind" [Talwind], der besonders im Winter mit orkanartiger Stärke taleinwärts bläst und durch die Haustüre, falls diese an der Front angebracht wäre, wie besessen durch alle Räume fahren würde. Aus demselben Grunde ist das Haus auch durch den obengenannten Holzverschlag geschützt. Wenn man an diesen durchaus deutschen Häusern noch Spuren romanischen Einflusses finden will, so ist es an der Türe, die verhältnismäßig sehr schmal und nicht selten mit Ornamentik, wie man sie in wälschen Gehöften antrifft, geschmückt ist. Merkwürdig erscheint nur der Umstand, daß die Häuser, selbst die ältesten, deutscher Bauart sind, während Name und Insassen durchwegs romanisch sind. Es erklärt sich, wenn wir hören, daß der eigentliche Hausbau im Montavon [Montafon] ziemlich jung ist - die ältesten Häuser sind aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts - also in eine Zeit zurück reichen, wo das Deutschtum hier in Sprache und Sitte bereits den Ton angab. Die wenigen romanischen Häuser, wenn man diese stallartigen Gehöfte so heißen darf, finden sich noch da und dort im Tale zerstreut, wurden aber mit dem Wachsen des Wohlstandes aufgegeben.
Aber Gott wohin geraten wir mit unserer ethnographischen Plauderei! Dürfen
wir uns Wundern, daß die gebräunten Dirnen, die in ihren rot
aufgeschlagenen Kattunkitteln und dem hochroten oder weißen Kopftuch
rechts und links am Wege heuen, uns kichernd nachschauen. Nun wir sind
ja gleich in Gaschurn, der vorletzten Etappe des Montavonthales [Montafonertales].
Kann es ein reizenderes Bildchen geben? Im Vordergrunde das Kirchlein
mit den paar Häusern auf den Hügel hingestellt, daneben das
schmucke "Rößle", unten der rauschende Bach, im Hintergrunde
die herrliche Valülaspitze (2810 Meter Höhe). Man muß
sagen, die wackere Frau Keßler im Rößle hat Alles getan,
was man von einem solchen weit entlegenen Alpenhotel verlangen kann. Reinliche
gute Betten, einen geschmackvollen Speisesaal, eine Kegelbahn, ein Schach,
eine kleine alpine Bücherei, kurz - Alles ist da, sogar eine Badestube
und ein Toilettenzimmer, eine Bequemlichkeit, die man leider selten antrifft,
obwohl sie für durchwandernde Touristen so notwendig ist. Ja nicht
genug; im obern Haus, daß besonders für Sommerfrischler hergerichtet
ist, befindet sich eine alte getäfelte Stube mit wertvollem Plafond
und ein baldachinüberschattetes stylvolles [stilvolles] Himmelbett.
Auch alte Porträts der österreichischen Erzherzoge Ferdinand
Karl und Sigmund aus dem 17. Jahrhundert und ein schönes Muttergottesbild
sind hier in diesem Brautgemach gratis zu sehen. Daß man hier auch
in gastronomischer Hinsicht bestens aufgehoben sei, zeigt der jährlich
sich steigernde Zufluß von Touristen und Sommerfrischlern, die mit
wehmütigem Herzen von hier wieder fortziehen, wie verschiedene prosaische
und poetische Bemerkungen des Fremdenbuches bezeugen.*)
*) So war es wenigstens, als s.Z. diese Zeilen
geschrieben wurden. Ich hoffe, daß es beim Alten geblieben ist und
dieser Gasthof auch in Zukunft seinen guten Ruf bewahren wird.
Bis der Kaffee bereitet ist, gehen wir nach Partenen oder Patenen, wie es auch heißt, dem Endpunkt des Montavon [Montafon]. In einer halben Stunde sind wir dort. Ich bin ein sehr großer Freund von Talschlüssen; es liegt auch ein eigener Reiz darin. Gewöhnlich weitet sich der Talkessel zu einer grünen Alpenmatte, ringsum umrahmt von steilen Felsjöchern mit brausenden Sturzbächen. So ist es auch hier bei Partenen. Es liegt mit dem kleinen Kirchlein und den wenigen Hütten von Felswänden ganz eingeschlossen aus dem grünen Weideboden. Dahinter stürzen von drei Seiten Bäche in mächtigen Fällen und Absätzen viel Türme hoch über die Schrofen. Linkerhand braust der Verbellenbach herunter; an ihm vorbei steigt man über das Zeynisjoch ins Hintere Paznaun; geradeaus wirft sich von einer Schlucht der Valüla der Valülabach in prächtiger Kaskade herab und rechts davon kommt mächtigen Falles die III über die Felsblöcke gestürmt, bereits ein ansehnliches Wasser. Sie strömt aus dem Ochsenthal [Ochsental], dem obersten Teile des Vermuntthales [Vermunttales], das sich im Halbbogen um das Massiv der Valüla gegen Paznaun zieht, und holt ihr eiskaltes Wasser weit drinnen unter den Schrofen des Vermuntferners.
Partenen selbst, die letzte Grenzstation des Montavonthales [Montafontales], bietet außer der großartigen Gebirgsszenerie nicht viel. Das primitive Gasthaus, das von dem früheren Besitzer den ominösen Namen "zum Essig" führt, gibt nunmehr reinliches Nachtquartier auf Matratzen und leidliche Verpflegung, dürfte aber im Hinblick auf die naheliegenden Gaschurner Gasthöfe auf größeren Zuspruch kaum rechnen dürfen. Es ist das sehr zu bedauern, denn so erquickende Luft wird man nicht leicht irgendwo finden. Stünde hier ein allen Anforderungen genügendes Gasthaus, dann dürfte der Zufluß an Gästen und Sommerfrischlern nicht ausbleiben. Allerdings müßte dieses Haus etwas mehr südlich, am besten jenseits der Ill zu stehen kommen, da Partenen am nördlich vom Orte liegenden Tafamontberg einen sehr gewalttätigen Nachbar hat, der es von Zeit zu Zeit - besonders im Jahre 1895 - mit einem Bombardement von mitunter hausgroßen Steinblöcken bedroht. Seit genanntem Jahr ist der gefürchtete Berg allerdings wieder ruhig geworden. Auffallend ist in Partenen und auch zum Teil in Gaschurn der helle Teint der Bewohner, besonders des weiblichen Geschlechtes und der reine, fast dem Schriftdeutsch sich nähernde Dialekt. Sollte hier noch eine unverfälschte Parzelle von Walser Bergleuten sich erhalten haben, der Schweif der Ansiedelung im hintersten Paznaun? In der Tat scheint auch in diesem Endpunkte des Montavon [Montafon] einst Bergbau betrieben worden sein, wenigstens spricht der Name des rechtsliegenden Gebirgsstockes Trumenir = Tru de miniera, zu deutsch Bergwerkweg, dafür. Auch soll früher durch das gegen Süden ziehende Vermuntthal [Vermunttal] sich ein besuchter Übergang ins Engadin befunden haben; man trifft in der Tat noch die Überreste größerer Steingebäude. Die fortschreitende Vergletscherung habe aber diese Verbindung abgebrochen.*) Auf diese Weise würde sich auch die durchgreifende Entromanisierung des Montavon [Montafon] erklären, indem die Bewohner, von ihren krautwälschen Brüdern im Engadin abgeschnitten, dem Germanisierungs-drang der Walser zum Opfer fielen. Ehe wir scheiden, will ich noch erwähnen, daß Partenen einen früher oft genannten Mann aufzuweisen hat, nämlich den vor einigen Jahren verstorbenen streitbaren Bischof Rudigier von Linz, der hier seine Heimat hatte. Er war ein zäher, unbeugsamer Charakter, wie alle Montavoner, fortschrittsfeindlich, aber ein Mann von seltener Opferwilligkeit und Uneigennützigkeit. Sein Geburtshaus ziert eine marmorene Gedenktafel.
*) Der vor einigen Jahren verstorbene Professor Dr. Nachbaur fand auf dem Vermuntgletscher ein Ochsenhufeisen und ein Brettchen von einer Hausierertruhe mit der Jahrzahl 1728.
Und nun, da wir das Tal von Anfang bis zum Ende durchwandert haben, nach Gaschurn zurück. Wenn der bestellte Kaffee inzwischen kalt geworden ist, trifft die Frau Wirtin wahrlich keine Schuld. Der Herr Pfarrer von Gaschurn wird es uns auch vergeben, wenn wir seine neu gebaute Pfarrkirche nicht mehr besichtigen. Die alte ist abgebrochen. Sie besaß eine wertvolle Kanzel mit kunsthistorisch interessanter alter Ornamentik. Ich erinnere mich noch ganz gut an den silberschuppigen Walfisch, der den Predigersitz trug und den Jonas mit einem Brief in der Hand ausspie. Die Schnitzerei wurde allgemein als äußerst kunstvoll angesehen. Als ich später meinen lieben Walfisch in der neuen Kirche suchte, fand ich ihn nirgends und mußte zu meinem Leidwesen hören, daß der Ortslehrer damit die Schulstube - geheizt habe. Der Pfarrer wollte eben, wie ich hörte, in seiner neuen Kirche nichts "Altes" dulden und so ging dieses Ornament und noch manches andere zu Grunde. -Von Partenen bis nach Bludenz kann man fahren, da jedoch erst in Gallenkirch ein Gefährte zu erreichen ist, so müssen wir wenigstens bis dahin noch wandern.
Ehvor wir dem schönen Thale Lebewohl sagen, will ich nur noch kurz etwas über den Typus und Charakter der Montavoner [Montafoner] sagen. Wer zu Fuße das Tal durchwandert, dem fällt der nicht deutsche Typus der Bewohner sofort auf, besonders beim weiblichen Geschlechte. Der Fleischton ist dunkler, die Lippen rot, das Auge feurig. Trotzdem liegt etwas vom Romanischen verschiedenes in Gesichtsbildung und Habitus dieser durchaus nicht elastischen Gestalten. Ich möchte es mit Steub auf eine "Hinterlassenschaft der Urbewohner, der alten Rätier" besser gesagt Kelten, zurückführen.*) Die Männer sind ziemlich hoch gewachsen und haben entschiedene Ähnlichkeit mit den Leuten in den ladinischen Tälern von Enneberg, Gröden und Fassa. Daneben schlägt oft überraschend der alemannische Typus durch. Im übrigen ist der Montavoner [Montafoner] ein sparsamer, kluger und berechnender Mann und gilt bei den Leuten im "Land" außen, d.h. in der Bludenzer Gegend als schlau und verschlagen. Der Walgauer sagt von ihm: "Der beste Muntavuner hat a Handäxle g'stola", welchen Spott ihm der Montavoner mit der Antwort zurückvergilt: "Damit er den besta Schnapfa ka' vom Galga ahahola". Schnapfa ist der Spitzname für die Bewohner des inneren Walgau, besonders im Bezirk von Bludenz. Industriell ist der Montavoner nicht, das zeigt seine Abneigung gegen Fabriken, sein spekulativer Sinn beschränkt sich auf den Viehhandel, den er allerdings meisterhaft versteht. Interessant ist das Tal auch dadurch, daß es noch seine Tracht bewahrt hat, welche sonst, mit Ausnahme des Walserthales [Walsertales] und Bregenzerwaldes, in Vorarlberg ganz untergegangen ist, und daß Volksbräuchen übt; ich erwähne nur z.B. das prachtvolle Schauspiel am Funkensonntag. Öffentliche Tänze sind nicht mehr im es in seiner Abgeschlossenheit noch eine Menge von Sitten und Schwange, aber sie waren es, wie die Tanzlaube in Gallenkirch und Gaschurn bezeugt. Schade, daß die Emanationen dieses Volkslebens noch nicht vollständig gesammelt sind und eigentlich nur die verdienstvolle Sagensammlung von Dr. Vonbun - Sander (2. verm. Aufl. Innsbruck, Wagner, 1889) vorliegt. Ein Altertumsforscher jedes Schlages kann in Montavon [Montafon] noch reiche Ausbeute machen. Damit Gott befohlen.
*) Über diese sg. Rätien, richtig Räter vgl. die nicht genug zu empfehlende Schrift von Univ. Prof. Dr. Friedrich Stolz: Die Urbevölkerung Tirols. 2. Aufl. Innsbruck. Wagner 1892. S. 6 ff. sowie die besonnen geschriebene Arbeit von Dr. Al. Walde: Ueber die Grundsätze und den heutigen Stand der nordtirolischen Ortsnamenforschung. Ebenda, 1901.
Quelle: Ludwig von Hörmann, Wanderungen in Vorarlberg,
2. Auflage, Bregenz 1901, S. 149 - 165.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Mag. Veronika Gautsch, Dezember
2005.
Rechtschreibung behutsam neu bearbeitet und auf den aktuellen Stand gebracht.
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