Ostersee
Eine kleine tiefe Gumpe, welche weiter zur Rechten vor der Trisselwand liegt, beißt der Ostersee. Unter seinem halb aufgetauten Eis schlummern noch die Frösche, derentwegen die Bauern das winzige Rund seiner Ufer besuchen. Der dreifache Widerhall auf dem See, von dem die Schiffer wie von einem Wunder sprechen, veranlaßt uns in dieser Hinsicht blasierte Wanderer zu keinerlei anregender Bemerkung. Wissen wir doch, daß es Gestaltungen von Felswänden gibt, welche fünfzig Silben wiederholen. Wir ziehen es vor, unsern Blick in die Tiefe zu versenken, aus welcher noch immer in grünlicher Dämmerung der dichtbewachsene Grund heraufschaut. Noch vor wenigen Tagen war das Eis am Ufer so klar, daß man die Frostdecke über dem Wasser nicht eher bemerkte, bevor man einen Stein hineinwarf. Dann knirschte es unter der zerschmetternden Last; eine hohe Garbe grünlich-weißen Gischtes schäumte herauf, wie die Bläschen in einem Kelchglas, welches mit einem kohlensäurehaltigen Getränk angefüllt ist. Jetzt ist es ein anderes Schauspiel in der klaren Flut, welches uns anzieht.
Vor einiger Zeit machte mich ein Wiener Kunsthändler auf die photographische
Abbildung einer Landschaft aufmerksam. Es war ein schneebedeckter Berg.
Da unter ihm, nur durch einen feinen Strich getrennt, genau dasselbe Bild
in derselben Energie der Farbe und der Schatten angebracht war, so fragte
ich ihn erstaunt, seit welcher Zeit man auf den Einfall geraten sei, die
zu stereoskopischer Wirkung bestimmten zwei Bilder desselben Gegenstandes
einander entgegengesetzt, das eine unter dem andern, anzubringen. Sein
Lächeln und mein längeres Hinschauen auf das Bild erst belehrten
mich, daß der umgestürzte Berg aus dem Spiegel eines Gewässers
schaute, der Zugspitzferner bei Partenkirchen aus dem Eiswasser der 'Blauen
Gumpe'. Eine Darstellung mit dem Lichtapparat, von dem Punkte aus aufgenommen,
über welchen eben unser Nachen hingleitet, würde mit seinen
verdoppelten Wäldern, Schneestreifen und Dachsteingiebeln dieselbe
Täuschung hervorbringen.
Quelle: Das Österreichische Seenbuch, Heinrich Noë, München 1867, S. 113 - 114.