Man stelle einmal einem Einheimischen auf der Straße unvermutet die Frage: Sie, lieber Mann, wo ist denn da der Weg nach Schwaz?
Der arme Mensch, den man solcherart überfällt, wird in den meisten Fällen fassungslos stehen bleiben, fürchterliche Gedankenfalten ziehen und dann nach einem verzweifelt klingenden "Jauooo, jauooo - - gelobt sai Jesus Kchrischtus" weitertraben.
Wir haben nämlich sein ganzes Denksystem durch die überstürzte Art der Fragestellung in Unordnung gebracht. Er hörte das landesfremde "Sie", hörte, daß er ein lieber Mann sei und dazu noch etwas von einem Weg und einen Ortsnamen. Das ist zuviel auf einmal.
Wer ordnungsgemäß fragt, wird auch eine verständige Antwort erhalten.
Und wie fragt man in Tarrol ordnungsgemäß? Indem man zunächst dem Entgegenkommenden den Weg vertritt. Dieser bleibt sodann ruhig stehen und wartet auf das, was kommen soll, weil er als kluger Kopf sofort begriffen bat: der will was von mir!
Dann beginnt man - beginnt mit Maß und Ziel:
Sö - - -!
Jauoooo - - - !
Jauoooo! Sö!
Wooos soll i?
Sö soll'n ma sogn - - (Eine Pause machen !)
I soll Eana sogn - - woos denn eppa?
In Wäch! 1) - -
Ah - - an Wäch! Wos fir oan denn?
Den Wäch - nach Schwoz!
Daraufhin wird der Mann die ganze Sache verständigerweise zusammenfassen: Alschdann, Sö woll'n den Wäch nach Schwoz wissn? Und nun ist er in die richtige Stimmung zum Nachdenken gebracht. Noch einige Minuten Überlegung, und wir erhalten die entsprechende Auskunft oder wenigstens die Mitteilung, daß er uns keine Auskunft geben könne.
Die Leute denken langsam, aber sehr geordnet.
Ganz verfehlt wäre es, aus solchen Erscheinungen den Schluß zu ziehen, daß die Tarrola schwerfällig und langsam seien. Wer dies meint, kennt ihre Fröhlichkeit, kennt ihre Unterhaltungen nicht! Nirgends wird das Raufen als öffentliche Volksbelustigung so geschickt eingeleitet und durchgeführt wie in Tarrol. Es ist vorwiegend Abendunterhaltung, die nach dem Ave Maria beginnt. Das Verlöschen der Petroleumlampe, von geschickter Hand im richtigen Augenblicke besorgt, gibt das Zeichen zum Anfang des Kampfes. Dann beginnt man im Finstern aufeinanderloszudreschen, denn es handelt sich nicht um einen wüsten Parteienkampf, sondern nur um eine sportliche Kraftäußerung. Anfänger kämpfen noch mit Stuhlbeinen und Sitzlehnen, die Vorgeschrittenen bedienen sich hiezu der Wein- und Bierflaschen, aus denen sie über der Tischkante in geschickter Weise den Boden herausschlagen; die dadurch entstehende scharfe, zackige Bruchfläche erhöht den Wert dieser beliebten Waffe ganz bedeutend. Freilich hält das härteste Glas höchstens vier bis fünf Schädel aus.
Ein reizender Humor äußert sich auch im Augenausdrücken. Durch eine flinke Bewegung wird dem Gegner mit Hilfe des Daumens das Auge aus der Höhle herausgedrückt, was so gründlich geschieht, daß dem Dorfbader gewöhnlich nichts anderes zu tun bleibt, als den heraushängenden Fleischklumpen zu entfernen. Gewiß ein köstlicher Sport, den die Landesregierung merkwürdigerweise unmöglich zu machen suchte. Aber die Bemühungen waren nutzlos. Jedes Volk hat ein heiliges Recht auf seine ihm lieb gewordenen Gewohnheiten und Spiele. 1)
Spricht nicht auch aus dem "Hoamwoas'n" eine überquellende Munterkeit? Wenn ein Liebhaber in einem fremden Dorf eine Geliebte besucht, wird ihm abends am Heimwege die Ehre des "Hoamwoasens" zuteil. Den Scherz besorgen die Burschen der betreffenden "G'moa" in der Weise, daß sie aus sicheren Verstecken heraus auf den ans der Nachbargemeinde ein Bombardement eröffnen. Das erste Mal nimmt man "Woas'n" hiezu, das heißt Grasbüschel mit den daran hängenden Erdschollen, für den Wiederholungsfall gilt die Anwendung von nägeldurchsetzten Holzlatten, von Schottersteinen und scharfkantigen Felstrümmern als Regel. Sobald der Beworfene zusammenstürzt, gibt der Spielleiter das Zeichen zur Beendigung dieses neckischen Amüsements mit den Worten: Er ischt scho' hi'g'foll'n! Sodann gehen alle ruhig nach Hause.
Mark und Kraft spricht aus solchen Belustigungen und nationalen Sporten. Mark und Kraft sind für das Wesen eines Volkes von höherem Werte als Höflichkeit, die doch nur ein Ausdruck der Dekadenz und Falschheit ist. Dieses böse Anzeichen der Dekadenz ist in Tarrol nirgends zu finden, dafür spricht man offen und klar.
Offen und klar war es gesprochen, als mir ein biederer Jägersmann auf meine Frage "Bitte, wo ist der Weg nach Gurgl?" antwortete: "Da Wäch nach Gurgl ischt do, wo a ischt!" Ebenso klar antwortete mir ein wackerer Ökonom auf meine Erkundigung nach dem Ortsnamen: "Wia des Ort do hoaßt? Schmeckch's ! -- Und wonn d'r wos nöt racht ischt, so konscht mi - - - - ! "
Auch jener temperamentvollen Kellnerin will ich gedenken, die mich auf den Wert der Streichhölzer so überaus eindringlich aufmerksam machte. Als ich mir meine ausgegangene Zigarre zum zweiten Male anzündete, rief sie mir nämlich zu:
Sö, hern S', 's nextemol trafen S' Eana a durt Eanare Stroachhölzln, wo S' Eanare Zigarrn kafen! Daß S'es nua wiss'n! -
Sie hatte ganz recht, hatte ebenso recht wie eine freundliche Bauernfrau, in deren Haus ich während eines Wolkenbruches mit der Bitte eintrat, mich einige Zeit unterstellen zu dürfen und die meinte: Na, zargeh' tadascht 3) wohl a nöt wia 'ra Stigl Zugga 4) woon'st weida gangascht, Stodfrackch g'sölchta!
Aus solchen und vielen ähnlichen Erlebnissen schöpfte ich die freudige Erkenntnis: Das Volk der Tarrola ist ohne Falsch. Es spricht, wie es denkt, und es denkt gut!
Seine Eigenart hat etwas Erquickendes, ja sogar etwas Rührendes.
Das Rührende äußert sich vor allem in ihrem Versuch, fröhlich zu sein. Völker anderer Länder singen, wenn sie lustig sind. Die tarrolische Fröhlichkeit bringt es nicht bis zu Worten oder gar bis zu einigen Liedern - sie lehrte die Menschen bloß "juchazen" und jodeln".
Der "Juchaza" klingt niemals lustig. Ganz im Gegenteile! Man stellt sich dabei einen Menschen vor, der sich krampfhaft bemüht, anders zu scheinen als er ist und fühlt darum aus diesen schrillen Tönen nur das Eine heraus: Armer Teufel! Du möchtest singen und kannst, bloß schreien und brüllen! Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man den Burschen sieht, der "juchazt". Er tut es ohne eine Spur von Lächeln, weder vorher noch nachher ändert sich seine ernste Miene.
Und mit Ernsthaftigkeit geben sie sich auch dem Vergnügen des "Jodelns" hin. Dieses ist weniger laut als das "Juchazn", hält dafür länger an und will eine gesanglich ausgedrückte Gedankenlosigkeit sein, ein Ziel, das so ziemlich erreicht wird - wenigstens was die Gedankenlosigkeit anlangt.
Reichlicher Alkobolgenuß vermag das "Jodeln" und "Juchazn" zu Tönen von solcher Kraft zu steigern, daß sich das Kriegsgeheul der Indianer oder der alten Germanen wohl nur wie ein armseliges Kindergewimmer dagegen ausnehmen würde. Aber selbst zartere Kunstäußerungen fehlen im Lande nicht. Was klingt zarter und feiner als eine Zither?
Mag sich das Zitherspiel auch bei manchen umwohnenden Völkerschaften finden, seinen Ursprung nahm es sicherlich in Tarrol. "Die Zidda geht af's G'miad' " 5), sagt der Tarrola, und das ist richtig. Denn dieses Instrument erinnert an das Gewimmer eines Sterbenden, wenn es sich um ernste Stücke handelt, und wenn es heiter sein möchte, ähnelt es dem letzten kraftlosen Gezirpe eines Heimchens, das sein Liedchen in den rauhen Herbsttagen für immer beendet. Bei solch jammervollen Tönen fällt einem alles Unangenehme und Ängstliche ein, was die Seele beschwert: bevorstehende Hühneraugenoperationen, hohle Zähne und die abgerissenen Knöpfe, die man sich als Junggeselle selber annähen muß.
Aus all den genannten Erscheinungen spricht ein inniges und ehrliches Bemühen nach Kunst und Fröhlichkeit. Mag das, was dabei herauskommt, auch arm oder wortlos sein, es bleibt doch rührend und auch interessant, weil es echte Heimatskunst ist. Juchazn, Jodeln und Zithernspiel - oh tarrolische Fröhlichkeit - wie bist du so traurig! -
Sicher müßte es Protest hervorrufen, wenn ich das Dasein eines tarrolischen Volksliedes ganz und gar bezweifelte. Hierin bin ich sehr bald - trotz "Juchaza" und "Jodler" - anderer Meinung geworden. Bekehrt hat mich ein echter Tarrola, den ich bat, mir etwas aus seinen Heimatsliedern vorzusingen, wenn es solche überhaupt geben sollte. Der Mann lächelte geringschätzig über meinen Zweifel und begann:
Bin das Kissen so gewehnt . . ." etc.
Ist das nicht Volkspoesie?
Wie ich höre, veranstaltet die Landesregierung eine Sammlung tarrolischer Volkslieder. Sie soll schon rund 20000 Stück beisammen haben. 6) Das Lied von der "kleinen Fitwe", die das "Kissen so gewehnt" ist, empfehle ich ihr hiermit als einundzwanzigtausendstes! -
Gemütstiefe hat dieses Volk wie kein anderes und ein Herz voll lebhafter Empfindung!
Solche Eigenschaften haben ihm auch die Tierseele nähergebracht und vollauf verstehen gelernt.
Oder wie wäre es sonst denkbar, daß es in Tarrol vielleicht zehnmal soviel Hunde als Menschen gibt? Der ärmste Teufel hat hier mindestens einen Hund, wohlhabende Leute besitzen deren oft bis zu zehn Stück.
Wenn man sich in einer tarrolischen Ansiedlung irgendwo ruhig auf die Straße stellt, fühlt man sofort ein sachtes Schnuppern an den Beinen, dem gar bald eine angenehme Feuchtigkeit folgt. "As trockchnat jo glei wida" sagt der verständige Tarrola, und mancher setzt nicht ohne Stolz hinzu: "Ächta Tarrola Lodn losst nix durchch!" - -
Der Hund gehört unzertrennlich zum Charakter der tarrolischen Niederlassung: er besorgt die Ornamentierung der Straßenecken und der öffentlichen Wege.
Undenkbar wäre in Tarrol eine Hartherzigkeit, wie man sie leider so oft in europäischen Städten beobachten kann, wo Anschläge verkünden: "Auf polizeiliche Anordnung ist das Mitbringen von Hunden in öffentliche Lokale verboten!"
Eine solche Verordnung würde in Tarrol unfehlbar einen neuen Volksaufstand hervorrufen!
Ja, womit soll man sich denn im Gasthause unterhalten, wenn nicht die Hunde wären? Man trinkt, jodelt, juchazt, raucht - - und dann?
Dann sind eben die Vierfüßler hier! Bald gilt es, einige raufende Hunde zu trennen, bald nehmen die Hunde durch kräftiges Bellen an dem Disput ihrer Herren teil oder heben irgendwo ein Bein hoch: was alles Anlaß zu Scherzen und köstlichen Überraschungen bietet.
Oft wird man beobachten können, wie Tarrola nach beendeter Mahlzeit ihre Teller den Hunden zum auslecken auf den Boden stellen: das ist aber keineswegs landesüblich! Solche Leute sind in der Fremde ein wenig entnationalisiert worden. Der echte Tarrola ißt mit seinen Hunden, die bei Tisch neben ihm sitzen, gleichzeitig und mit derselben Gabel aus demselben Teller - eine Kordialität zwischen Tier und Mensch, die jedem, wenn schon nicht aufs Herz, so doch auf den Magen gehen muß. Als ich dergleichen das erstemal sah, hatte mich meine europäische Überempfindlichkeit zur Frage veranlaßt: Sind denn bei diesem intimen Verkehre nicht die Flöhe und Würmer zu fürchten? - Aber ein treuherziger Tarrola gegenüber antwortete: Oh naa, liawa Hea'! Fir mai'
Huntl ischt koa G'fohr nöt, denn d'Fleh gehn nöt weg von mia, und Wirma hon' i koane nöt! - -
Mit innigem Vergnügen beobachtete ich Tag für Tag einen anderen, der mit seinem Hunde nach der Mahlzeit lange politische Diskurse hielt. Obwohl der Mann sogar einen akademischen Grad besaß, war seine Seele doch schlicht und unverfälscht wie die seiner Mitbürger. Gemeinsam sahen die beiden Freunde in ihr Leiborgan. Der Hund, eine Dogge von Ochsengröße, spitzte die Ohren, und der Herr begann: Herscht du! Ischt dös nöt aine Gemeinheit vo' dö Pölz ? Scho' wida fongen s' o'! (Faustschlag auf den Tisch. Der Hund knurrt.) Jauooo, Wauotaan, won ins oa'mol oano untakchemat, wooos ! (Der Hund bellt.) Ah jauooo, i woaß's scho', du bischt a rachte tarrolische Hunt! - Naaa, oh da schaug hea, Wauotaan, so a Gemeinheit vo' de Wallischen, da schaug hea! (Der Hund legt ihm die Vorderpfoten aufs Knie und bellt geradezu auf die bezeichnete Stelle hin!) - Brav, Wauotaan, jauooo, du bischt holt a g'schaida Kcherl, der mi' glei' vasteht !
So ging es lange Zeit fort. Sie verstanden sich wirklich vollkommen und gehörten zweifelsohne zur selben politischen Partei. -
Wo wir daher hinblicken, sei es Alltagsleben, Kunst oder Nationalsport - der Tarrola zeigt in allem eine sehr ausgebildete Eigenart.
Seine hohen Berge, die ihn wie ein schützender Wall umgeben, werden ihm jederzeit behilflich sein, sein Wesen vor dem verderblichen Einflusse Europas zu bewahren.
Und das ist erfreulich.
Denn tarrolische Eigenart ist ein köstliches Gut.
Mit Recht sagt darum das Volk: "Tarrol den Tarrolan!" - Ich werde nie zu denjenigen gehören, die es ihnen nehmen wollen, niemals!
1) Den Weg.
2) Wegen dieser Stelle wurde mir während der Korrektur von einem Europäer, der im Zülathoul (deutsch: Zillerthal) als Beamter der politischen Behörde lebt, folgende Berichtigung eingesendet: "Das Augenausdrücken ist nicht, wie Sie zu glauben scheinen, ein überall geübter Nationalsport; im "Zülathoul" und vielen anderen Quertälern schätzt man das Wegbeißen der Ohren und der Nasenspitzen während des Raufens - allerdings zu meist neben dem Augenausdrücken - als einen sehr unterhaltlichen Zeitvertreib. An solchen Orten begegnet man darum häufig Männern mit verstümmelten Nasen und mit Ohrenfragmenten." - Der Fremde gedenke beim Eintritt in das obenbezeichnete Tal auch des schönen Nationalliedes: "Zülathoul du bischt mai' Fraid." -
3) zergehen würdest (tätest) du - -
4) Stück Zucker.
5) auf das Gemüt.
6) Laut Zeitungsnachrichten vom 8. August 1908.