Eine Sommerliebe.
Die blanken Bergspitzen ragten funkelnd in den blauen
Himmel hinein, die Wälder dufteten, die schroffsten Felswände
hatten ihre Blüten und ihre Farben; wo man unter den Schneemauern des
Winters nie einen Wasserlauf vermutet hätte, da sprühte und rauschte
es jetzt zwischen Farnkräutern und Dotterblumen munter talab: Der Sommer
war gekommen.
Alles, was den harten, langen Winter überstanden, alles, was in den
Frühjahrswochen nicht erfroren war, lebte jetzt mit doppelter Freude.
Es zirpte und sang auf den blumigen Wiesen, es sang von den schweigsamen,
ernsten Föhren und Fichten herab, unter denen die Rehe mit ihren sanften,
lieben, großen Augen fürsorglich dahinschritten.
Die Wandervögel waren längst gekommen. Erst lange nach ihnen trafen
die Sommergäste in Tarrol ein. Sie kamen aus den verschiedensten Ländern
Europas und mit den verschiedensten Erwartungen und Wünschen.
Familie Hedemann aus Berlin - Mutter und zwei erwachsene Töchter -
kam mit der Sehnsucht nach ländlicher Stille, Ursprünglichkeit
und "jemütvollen" einfachen Menschen.
Der Vater wollte erst viel später nachkommen.
Da sie vorderhand nicht daran dachten, waren sie sehr fröhlich.
Sie wohnten in einem abgeschiedenen Tale im Hause eines Kleinbauern. Mit
ihrer Berliner Kultur fühlten sie sich unter den Tarrolern wie allmächtige
Götter unter hilflosen Menschen. Sie lächelten und witzelten über
die Bauern und schwärmten für Volkstrachten, Berge und "ächte
Naturbutter".
Ganz besonders aber entzückte sie ihr Hausgenosse Cölestin Attlmayr,
genannt "Lastl". Schon der seltsame Name Cölestin und der selbst in
Tarrol landesfremde Rufname Lastl machten ihnen den Burschen interessant.
Lastl, der Sohn des Bauern, war zwanzig Jahre alt, kräftig gebaut,
stiernackig, mit ganz kleinem Kopfe, schweinsäugig und großohrig.
Seine zottigen Pratzen waren so gewichtig, daß sie noch weiter schwangen,
wenn er stehen blieb. Er ging nicht mit seinen eisenbeschlagenen Bergschuhen,
vielmehr schienen die Schuhe mit ihm zu gehen. Mit seinen Trittflächen
allein überwältigte er vier Gegner. Wenn er noch überdies
die Hände dazu nahm, war der ganze Gemeindeausschuß gegen ihn
machtlos. Und die sechs Gemeindeausschüsse hatten ein Gesamtgewicht
von 638 kg. -
Lastl war für die Berliner Damen der Typus bäuerlicher Naivität
und Stupidität, eine herrliche Zielscheibe ihres überlegenen Witzes
und ihrer europäischen Ausgelassenheit. Lastl merkte nichts und duldete
alles. Bei ihren Fragen und Spötteleien zeigte er eine Miene unbegrenzter
Trottelhaftigkeit. Sein inhaltsloses Lachen im Vereine mit dem nichtssagenden
Blicke seiner Schweinsäuglein gaben ihm den Ausdruck einer schrankenlosen,
unerschütterlichen Gedankenlosigkeit. Hinter dieser Maske lebte er.
Seine flache Schädeldecke barg ein Gehirn, das nicht größer
war, als das eines achttägigen Kalbes. Aber dieses Gehirn hatte Raum
für alle Gedanken, die er brauchte. Als die Berlinerinnen noch nicht
ahnten, wer er war, kannte er sie schon vollkommen.
Zur Tochter des Dorfkrämers sagte er "Guadn Toch, Fräuln Marie",
indessen er die zwei Berliner Mädchen stets nur mit "Grüaß
enk Gauood, Menscha" begrüßte.
Dieser Gruß verlor für die beiden jungen Damen nie an Reiz. Sie
lachten sich jederzeit halb tot, als wenn sie ihn zum ersten Male hörten.
Als man ihm einmal mit Apfelsinen aufwartete, wollte er die Schalen essen
und das andere wegwerfen. Eine Woche lang sprachen die Berlinerinnen davon.
Freilich ahnten sie nicht, daß Lastl im vergangenen Sommer von einer
alten frommen Gräfin mehrere Wochen hindurch mit Beefsteaks, Kaviar
und Selleriesalat gefüttert worden war, also bedeutend feiner gelebt
hatte, als es sich die drei Damen erlauben durften.
Sie schwärmten für Lastls Urwüchsigkeit. Een jottvoll-ursprünglicher
Mensch, sagte die Mama. Een jemütlicher Bursche, sagten die Töchter.
Lastl wartete. Er wußte, worauf er zu warten hatte.
Zuerst diente er Hede, Hede Hedemann, als "Bergführer". Er zeigte ihr
einen "b'sundas schen' Woldwäch" 1). Seine Arbeitsmethode war immer
die gleiche. Alle führte er über diesen Waldweg, Fremde und Einheimische.
An einer bestimmten Stelle war ein schmaler Steg und darunter eine tiefe
Mulde, darin eine hohe, weiche Schicht roter Buchenblätter lag. Als
sie über diesen Steg gingen, schrie er plötzlich "Jessas na!"
und stürzte ab. Im Sturz riß er sie natürlich mit. Und dann
fielen sie - keinen Meter hoch - in die weichen, feuchtwarmen Blätter
hinein.
So machte er es immer, weil er kein Freund vieler Worte war. Auch hatte
er überhaupt für Buchenblätter eine besondere Vorliebe. Ein
Städter würde darum sagen er war "pervers".
Erst lange nach dem Absturze kamen sie aus den Buchenblättern heraus.
Sie waren heil.
Nach einigen Tagen stürzte er an derselben Stelle mit der Schwester
Helene ab. Doch diese sagte ihm nachher: Lastl, du bist 'n janz jemeiner
Schurke! und ehe sie ihn küßte, zerkratzte sie ihm das Gesicht.
Hede hatte bloß vor Erregung geweint.
Dieses sehr verschiedene Temperament beider Schwestern entging Lastl nicht.
Er hielt sich von nun ab mehr an Hede, was den Anfang verschiedener Konflikte
bildete. Noch ärger wurde die Sache, als auch die Mutter ein freundliches
Auge auf Lastl warf. Sie hatte ein Doppelkinn, einen starken Schnurrbart
und transpirierte ungemein reichlich. Zwar war Lastl kein Feinschmecker,aber
er besaß auch eine einheimische Geliebte. Darum bemerkte er das freundliche
Auge der Mutter nicht, wiewohl er es sofort bemerkte. Der Mensch ist kein
Gockelhahn.
Mit ihr wollte er nicht abstürzen. Nun begann die Mutter ihre Töchter
schärfer zu überwachen. Lastl fühlte die beginnende Feindschaft.
Er fühlte aber auch den Argwohn seiner einheimischen Liebe. Sie stellte
ihn schließlich, indem sie ihm sagte: "Du hoscht oan Auch' auf die
Stodtmenscha, dös kchenn' i ! Natürlach, wä s' holt so vül
wos sche' o'zog'n san! Owa dös woaßt nöt, daß vurn
a jede a Handtiachl einig'schoppt 2) hot, daß 's herschaut, als won
wos do wa, wonn a gor nix do ischt, do Tolm du! "
"Kathl," sagte er ernst, "du woaßt, daß i bei dä Weibs
nur aufs Ei'wendiche schaug und gor nöt aufs Auswendiche! I wor d'r
trei, i bleib d'r trei!"
Das waren Worte, die mit den Taten nicht übereinstimmten. - Sie erwischte
ihn dabei, und weil sie ihn ehrlich liebte, gab sie ihm zwei gewaltige Ohrfeigen.
Ihre Hände waren nicht viel kleiner als die seinen, Lastl hatte viel
durchzumachen.
Dös ischt org schmerzhoft, murmelte er, wos an urdantlacha Kchrischtenmensch
wegen zwoa so lutharische Menscha ausholtn und daleidn muaß! - Sein
Gemüt war weich, er fühlte auch kleine Wunden. Unterdessen wurde
die feindliche Mutter von Tag zu Tag tückischer. Sie sperrte Hede geradezu
ein, und als er sich dann wieder mehr Helenen zuwandte, traf diese das gleiche
Schicksal. Doch Lastl hatte Grundsätze, er blieb hart. Die Mutter begann
ihn zu hassen. Sie wandte sich an seine Eltern mit der Bitte, Lastl, der
ein frecher Bursche sei und ihren Töchtern nachstelle, dies energisch
zu verbieten.
Ein Sturm der Entrüstung brach nun los. Der alte Bauer fluchte, die
Mutter schimpfte. - Ös Bagaschi, ös elendache! Wos, insa Suhn
giengat auf Eanara Menscha? Ah! do hert si' frei 3) ollas auf! Mia san urdentlache
Kchrischtenleit, dö wos a Rölichion hom und dö wos koane
fremdn Menscha nöt brauchn! Schamt's enk, wonn engare Madln so nixnutziche
Schlomp'n und Fackch'n 4) san, daß s' an rachtschoff'nen Tarrolabuam
vafihrn mecht'n! -
In die ganze Bevölkerung verpflanzte sich die Empörung gegen die
lutherischen Sittenverderber; bis auf die Kanzel kam die Sache. Von dort
herunter hörte man eines Sonntags die Warnung: Kchrischtlache Jinglinge,
ich warne enk vor dö lutharischen Weiba, dö wos hiazt in insra
G'moa die jung'n Menna zum Last'r und zur Sinte bring'n woll'n! -
Man kündigte den Berlinerinnen nicht, man setzte sie mit ihren Koffern
einfach auf die Straße. Als sie zum Bahnhof abzogen, stand der "rachtschoffane
Tarrolabual° Lastl beim Misthaufen und sagte: Pfiat enk Good, Menscha!
Diesmal lachten jedoch die "Menscha" nicht, nur Lastl lachte. -
Die "ächte Naturbutter", die sie genossen hatten, war zwar von einer
europäischen Magarinefabrik geliefert worden, dafür aber kosteten
sie einen unverfälschten Tarrola.
Vielleicht übersahen die nervösen Städterinnen beides.
1) Waldweg.
2) hineingestopft.
3) doch, nahezu, fast usw.
4) lüderliche Weiber und Ferkeln.