2. Die Stör
Auf dem Lande herrscht, wenn auch nicht mehr so allgemein wie früher, der Gebrauch, Handwerker mit ihrem Gerät ins Haus zu bestellen, wo sie für Kost und einen angemessenen Taglohn die bestimmte Arbeit verrichten. Sie kommt auf diese Weise den Bauern viel billiger zu stehen, da er den Stoff für Kleidung und Beschuhung, das Holz für Tischlerarbeiten etc. selbst im Hause hat. Man nennt diese Einrichtung "auf die Stear (Stör) nehmen", welcher Name sprachlich noch nicht ganz sicher erklärt ist. Wahrscheinlich hängt er mit dem gebräuchlichen Zeitwort stören, das auch die Bedeutung von "unbefugt ein Handwerk treiben" hat, zusammen. Diese bäuerliche und zum Teil auch städtische Arbeitsaushilfe ist jedenfalls sehr alt und findet sich vorzüglich im bajuwarischen Gebiete, in Oberbayern, Salzburg und Tirol.
So sagt schon Hans Sachs 1559 in seinem pikanten Schwank "die pewrin (Bäuerin) mit der dicken millich (Milch)":
"Als ich meim Handwerk nach thet wandern,
Von einem Lande zu dem andern
Kam ich gen Schwatz in das Innthal
Do im bergkwerg ein grose zal
Ertzknappen arbeitn tag und nacht.
Ich wurd zu eim meyster einbracht,
Der sonst noch ein gesellen het,
Mit dem aufs der stör arbeitn thet,
Wie denn der Brauch ist in dem landt,
Doch bey uns hie gar unbekannt."
Aber auch in der Schweiz und in anderen alamannischen Gegenden kam sie schon lange Zeit vor, wie wir aus Pictorius (1561) missen. Die "Stör" trifft man fast bei allen Handwerkern, gewöhnlich aber ist es der Schneider, Schuster und Weber, den man ins Haus kommen läßt. Meistens verlegt man solche Arbeiten auf den Herbst, für manche Geschäfte taugt jedoch der Frühling besser, z. B. für den Wagner und "Kummeter" (Kummetmacher), der die Geräte für die nahende Sommerzeit in Stand setzen soll. Der tiefe Winter eignet sich weniger, weil die Tage zu kurz sind und im Sommer schickt es sich nicht wohl wegen der drängenden Feldarbeit.
Ist nun irgend ein Handwerker für den folgenden Tag angesagt, so
sorgt die Bäuerin schon am Vorabend, daß Küche und Keller
wohl bestellt sei, um den Gast, der für ein paar Tage in ihrem Hause
weilen soll, ordentlich bewirten zu können. Man sieht es gerne, wenn
er mit gutem Appetit ißt; dann meint man, könne er auch flinke
und genaue Arbeit liefern. Die Leute kommen schon in aller Frühe,
um 5 oder 6 Uhr. Da klopft es an die Haustür und der Bauer eilt den
Riegel wegzuschieben. Nun tritt der Schneider herein mit der Schere in
der Hand und den Ellenstab an der Seite, oder der Weber mit dem Webstuhl,
der Schuster mit seiner Werkzeugtruhe auf dem Rücken, der Zimmermann
mit dem Beil oder der Tischler mit einem Paar Hobel, mit der Säge
und dem Richtscheite. Mit freundlichem Gruß wird der Ankömmling
in die Stube geleitet, wo er seinen "Arbeitsplunder" auf den
Eßtisch legt, dort ausbreitet und sich sofort an die Arbeit macht.
Unterdessen hat die Hausfrau den Morgenimbiß bereitet, eine Brennsuppe
und ein schmalziges "Türkenmus" und bringt nun beides herein,
damit sich der Mann für sein Tagwerk stärke. Die Hausleute,
besonders aber der Bauer, bleiben gern in der Stube und leisten ihm Gesellschaft,
einerseits als Aufsicht, andererseits zur Unterhaltung, da es sich mit
dem Meister Schuster oder Schneider recht angenehm "heimgarten"
läßt. Um 9 Uhr bringt die Bäuerin einen zweiten Imbiß,
ein Glas Kirschbranntwein, Käse und Brot und einen Teller voll frischgeschlagener
Butter mit goldgelbem Honig übergossen. Das Mittagessen besteht aus
gerösteten Erdäpfeln mit Milch und schmalzigen Nudeln. Die "Marend"
(Jause) bilden "Milch und Brocken, Käse und Brot", das
Nachtessen, das um 7 Uhr, und zwar ebenfalls gemeinschaftlich eingenommen
wird, besteht aus "gedämpften" Erdäpfeln mit Milch
und einer schmalzigen Mehlspeise, oder aus einem "Türkenmus".
So lautet wenigstens die Speiseordnung im Oberinntale, wo das "in
die Stear gehen" noch am meisten im Schwange ist; an anderen Orten
mag die Kost nach dem Talbrauche etwas verändert sein.
Nach dem Nachtessen wird es erst gemütlich. Da kommen von da und
dort Nachbarsleute in den "Heimgarten", die verschiedene Neuigkeiten
zu berichten wissen, so daß sich die "Stör" fast
zu einer Belustigung gestaltet. Der Handwerksmann gewinnt dabei neue Kundschaften,
mit denen er schnell das Nötige vereinbart. Um 8 Uhr macht er gewöhnlich
Feierabend, leert noch ein Gläschen Kirschengeist, das ihm die Hausfrau
zum Schlaftrunk bringt, und packt dann sein Werkzeug zusammen. Ist die
Arbeit vollendet, so zahlt ihm der Bauer den ausbedungenen Lohn und er
nimmt Abschied.
In neuester Zeit sind die "Stören" nicht mehr so allgemein
im Gebrauche, wie früher. Meister Weber kommt fast nirgends mehr
ins Haus und selten tönt aus einer Bauernstube das einförmige
Geräusch des Webstuhles, von dem der Spottvers singt:
"Weber wump, wump,
Hat's Hösl weit unt" etc.
Anstatt wie ehemals den dauerhaften "Duxer" zu Hause weben und schneidern zu lassen, verkauft der Bauer jetzt lieber die Wolle in der Stadt, weil er das Geld zum Steuerzahlen braucht. Seit die Eisenbahnen das Land durchziehen, ist die Entfernung der vorher abgeschlossenen Gebirgstäler nicht mehr so groß und der Besuch der Städte sehr erleichtert. Während man einst diese "Thölderer" (Talbewohner) mit ihren altertümlichen Trachten fast nur an großen Markttagen an so einem Mittelpunkte sehen konnte, wimmeln jetzt an Sonn- und sogenannten Bauernfeiertagen die Gasthäuser und Cafs's zweiten Ranges von Landvolk, das sich da freier und ungezwungener fühlt, als daheim. Bei solchen Gelegenheiten werden auch Einkäufe gemacht und in eigenen "Bauernläden", die mit ihren Waren auf die niedrige Volksklasse rechnen, Stoffe erhandelt, die zwar wohlfeil und hübsch zum Ansehen, aber nicht halb so haltbar sind als vormals selbstgewirkter Loden. Häufig kauft man auch auf Märkten oder von einem der Hausierer, die mit ihren hochbepackten "Kraxen" die Täler durchwandern. Diese Stoffe verarbeitet dann der Schneider "auf der Stör" zu "Janker" (Jacke) und Hosen für die männlichen Hausbewohner. Ähnlich verhält es sich mit der weiblichen Bekleidung. Die Näherin, welche ebenfalls noch im Hause arbeitet, macht nicht mehr die altbäuerischen oft kunstvoll verzierten Mieder, die verbrämten Röcke oder gar Wilflinge (Faltenkittel) für Bäuerin und Dirnen, sondern aus den verschiedenen Stoffen des Kaufladens ganze Anzüge, denen sie mehr und mehr den städtischen Zuschnitt zu geben weiß. Die "27-Kreuzerbazare", die sich in neuester Zeit sogar in Gebirgsstädten eingerichtet haben, zählen die Bauern zu ihren besten Kunden.
Am getreuesten hält noch der Bauernschuster am Alten. "Treteware"
wie das Volk die Trottoirs, (Randwege oder Bürgersteige) heißt,
gibt es keine auf dem Dorfe, darum macht er auch die Schuhe nach gutem
alten Brauche, plump und schwer, und nagelt wahre Pfundsohlen mit großen
Flügelnägeln daran. Hiezu gibt der Bauer die Rindshaut selber
her und läßt sie beim Gerber zubereiten. Solche Schuhe halten
freilich das ganze Jahr aus in allem Koth und Schneewasser. Gegen letzteres
werden sie mit Pech und Schweinefett eingeschmiert. Mit einer derartigen
Fußbekleidung kann man sich allerdings zu den Festkleidern am Sonntag
nicht sehen lassen; für diesen Zweck wird sie daher eigens und besonders
für die weiblichen Kunden feiner gemacht. Der Störschuster schneidet
gewöhnlich aus starkem Leder auch die Riemen, die man für die
Pferdegeschirre etc. braucht.
Quelle: Ludwig von Hörmann, Tiroler Volksleben,
Stuttgart 1909. S. 402 - 406.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Isabella Richrath, Oktober 2005.
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