Einleitung

Am 1. Oktober 1833 gelangte Darwin bei einer Durchquerung der argentinischen Pampas an eine Stelle des Steilufers des Parana, an der nahe beieinander zwei ungeheure Skelette fossiler Säugetiere in der Lehmwand oberhalb des Stromes steckten. Die ihn begleitenden Leute, die sein Kanu führten, erklärten ihm, dass diese Skelette die Reste großer Tiere seien, die früher in dieser Gegend lebten, und dass diese riesigen Säugetiere nach Art der heute in diesem Gebiet lebenden Viscacha in unterirdischen Bauen hausten. Darwin erkannte in den beiden Skeletten die Überreste von Mastodonten, von denen wir heute mit Bestimmtheit wissen, dass sie eine oberirdische Lebensweise führten wie alle ihre Verwandten aus dem Stamme der Rüsseltiere.

In Ostasien ist man schon in alter Zeit ebenso wie in Argentinien auf die im Erdboden steckenden Reste von Mammuten aufmerksam geworden, und die Chinesen haben sich über die Lebensweise dieser ausgestorbenen Rüsseltiere, deren Knochen und Zähne im Löß begraben liegen, gleichfalls die Vorstellung gebildet, dass der „Tinschu“, wie sie das Mammut nennen, nach Art eines Maulwurfes im Boden lebe und grabe.

Beide Beispiele zeigen deutlich, wie sich der naive Mensch mit den Überresten vorzeitlicher Riesentiere, die der scharfen Beobachtung von Naturvölkern kaum entgehen konnten, abzufinden versucht hat. Wir belächeln die Vorstellungen der Indianer und Chinesen von der Lebensweise der vorzeitlichen großen Säugetiere, aber wir vergessen leicht dabei, dass auch wir Europäer, die wir auf unsere jahrtausendalte Kultur so stolz zu sein pflegen, noch vor nicht allzu langer Zeit die sonderbarsten Vorstellungen von den vorzeitlichen Tieren hatten und dass es kaum hundertfünfzig Jahre her ist, seit wir anfingen, die fossilen Reste nach wissenschaftlichen Methoden zu untersuchen. Auch in Europa waren die riesigen Knochen fossiler Säugetiere den Blicken unserer Voreltern nicht entgangen. Und ähnlich, wie sich die Chinesen und Indianer mit diesen Resten abzufinden versuchten, geschah es auch in früheren Jahrhunderten bei uns.

Nur waren die Versuche einer Erklärung dieser Überreste viel abenteuerlicher als es die der argentinischen Indianer und Chinesen sind, denn unsere Vorfahren wollten alles Mögliche aus den Knochen und Zähnen, die ihnen bei gelegentlichen Aufschlüssen des Erdbodens in die Hände gelangten, herausfinden. Da entstanden die Sagen und Märchen von gewaltigen Titanen und Giganten, von einäugigen Zyklopen und riesenhaften Menschen aus der sogenannten Heroenzeit, und die überlieferten Sagen von Drachen fanden in Funden fossiler Knochen reiche und immer neue Nahrung. Die Scharen vielgestaltiger, geflügelter Geister, die auf einer Unzahl von altchaldäischen und assyrischen Bildwerken dargestellt sind, haben schon im Altertum die Veranlassung zu verschiedenen Sagen geflügelter Menschen und Tiere gegeben und die verschiedenen Fabeln von geflügelten Schlangen und Drachen gehen zweifellos auf dieselbe Wurzel zurück, ebenso wie auch die Einhornsage in letzter Linie den gleichen Ursprung hat. Und als später die in den Schriften des klassischen Altertums enthaltenen Angaben von der Existenz solcher Fabelwesen sich mit der Sagenwelt des germanischen Kulturkreises im Mittelalter zu vermischen begannen, wurden die Sagen vom Einhorn, von geflügelten Schlangen und Drachen mit der altgermanischen Lindwurmsage verschweißt. Daneben aber laufen stets die Vorstellungen der naiven Menschen, die aus unmittelbaren Funden vorzeitlicher Tierreste ihre eigene Sagenwelt und ihre Märchen formen. Der Alpenbewohner betrachtet sinnend die merkwürdigen Spiralen der Ammoniten und versteinerten Schnecken oder die Querschnitte großer Muscheln an den Felswänden, der Bewohner Mitteldeutschlands sucht sich die Antwort auf die Frage, woher die Belemniten kommen und was diese Dinge eigentlich sein mögen, die wohl kaum anders wie als „Donnerkeile“ zu deuten seien; der ungarische Hirte sieht in den von den Wellen des Plattensees an das Ufer geschwemmten Bruchstücken der Muschelgattung Congeria versteinerte Ziegenklauen und erblickt in den Nummuliten „versteinerte“ Pfennige aus der Zeit des heiligen Ladislaus.

Und in dem Maße, als die oft so sonderbar gestalteten fossilen Überreste die Aufmerksamkeit fesseln und zum Nachdenken über ihre Herkunft anregen, wächst das ehrfürchtige Staunen vor diesen der heutigen Umwelt so fremden Gegenständen, das seinen Ausdruck darin findet, dass diesen Funden übernatürliche Wirkungen zugeschrieben werden. So werden die Fossilreste zu Zaubersteinen und Heilmitteln in weit voneinander entfernten Gebieten der bewohnten Erde, in den Mittelmeerländern ebenso wohl wie in Nordeuropa, in Ostindien und in China. Und während der Aberglauben, der sich an die Fossilreste knüpft, in den breiten Volksschichten wurzelt und hier üppige Blüten treibt, bemächtigt sich auch der Wunderdoktor und mit ihm der gelehrte Arzt früherer Zeiten dieser Objekte. Die verschiedenen Sagen und Fabeln aus grauer Vorzeit, die sich um die Fossilfunde spinnen und aus den Schriften des klassischen Altertums während des Mittelalters und auch später noch von den gelehrten Mönchen und den Gelehrten der Scholastikerzeit übernommen und geglaubt werden, verfilzen sich auf dem Boden unserer engeren Heimat mit den Märchen und Sagen der breiten Volksschichten zu einem dichten Geflechte, in das erst verhältnismäßig spät das unerbittliche Messer der wissenschaftlichen Forschung Schritt um Schritt Lichtungen zu schlagen imstande gewesen ist.

Wenn wir auch heute mit dem überlegenen, wenngleich oft so wenig berechtigten Lächeln des modernen Menschen auf diesen Wust von Aberglauben blicken, der sich um die von unseren Vorfahren gefundenen fossilen Reste rankt, und wenn wir uns auch nicht mehr vor Riesen, Einhörnern, Drachen und Lindwürmern zu fürchten brauchen, die nach dem festen Glauben unserer Ahnen in den finstern Wäldern und Felsenklüften lauerten, wenn wir auch nicht mehr den giftigen Blick des Basilisken scheuen müssen und nicht in jeder Höhle die Wohnstätte unheimlicher Lindwürmer sehen, wenn wir endlich auch den Glauben an die Zauberkraft des Einhorns und so vieler anderer fossiler Reste verloren haben, so ist es doch von großem Reize, den Irrwegen des Aberglaubens früherer Zeiten nachzuspüren und den Versuch zu unternehmen, die Entstehung jener Märchen und Sagen zu verfolgen, die sich an die Funde fossiler Tierreste knüpfen. Vieles davon bleibt für uns wohl leider auf immer in Dunkel gehüllt, aber manches lässt sich seiner Entstehung nach mit großer Wahrscheinlichkeit erklären. Wenn wir uns auf den Standpunkt stellen, dass die Annahme berechtigt erscheint, dass die Entstehung von Fabeltieren und der Ursprung der verschiedenen Märchen von Riesen, Drachen, Lindwürmern, Basilisken und anderen Ungeheuern der Sagen- und Märchenwelt vergangener Zeiten fast ausnahmslos auf ursprünglich gemachte Beobachtungen und Erfahrungen zurückgeht, die nur durch den Mangel wissenschaftlicher Betrachtungsweise zu bizarren Formen verzerrt erscheinen, so haben wir bereits einen Anhaltspunkt gewonnen, um so manche von diesen Sagen und Märchen, die sich an fossile Reste knüpfen, zu enträtseln und ihren Kern herauszuschälen.

Quelle: Die vorweltlichen Tiere in Märchen, Sage und Aberglaube, Othenio Abel, Karlsruhe 1923, S. 1 - 4.