Geflügelte Schlangen

Wie schon früher erwähnt, geht die Vorstellung von geflügelten Schlangen bis in das Altertum zurück und ist aus den Schriften des Plinius und anderer Schriftsteller der klassischen Zeit durch die gelehrten Mönche des Mittelalters in den germanischen Kulturkreis verpflanzt worden. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurzelt die Vorstellung geflügelter Tiere in altchaldäischen und altassyrischen Bildereien, Ein Fall aber, der uns zeigt, wie auch in diesem Falle Fossilfunde bei der Ausgestaltung der Sagen von geflügelten Unholden mitgespielt haben, mag hier noch flüchtig besprochen werden.

Nach Herodot (8) sollen in der Nähe der alten und von den Archäologen vergebens gesuchten, weil irrtümlich in das Deltaland des Nils verlegten Stadt Buto, der alten Hauptstadt Unterägyptens, in jedem Frühjahr fliegende Schlangen aufgetreten sein, die nach einer von Herodot mitgeteilten Sage aus Arabien stammten. Jeder Versuch dieser Untiere, in Ägypten einzubrechen, sei jedoch von den rasch herbeieilenden heiligen Ibissen abgeschlagen worden, die den von den Felsenbergen nach der Wüstenebene herabziehenden Hohlweg besetzten und hier die fliegenden Schlangen überfielen und vernichteten.

(8) II. Band, Kap. 75.

Herodot wünschte sich durch den Augenschein von der Richtigkeit dieser ihm mit großer Bestimmtheit gemachten Angaben zu überzeugen und wurde von den ansässigen Arabern in den bewussten Hohlweg geführt, wo er in der Tat die Skelette der getöteten Schlangen vorfand und zwar waren es große, mittlere und kleine Haufen von „Akanthai“ (d. i. Wirbelfortsätze, im übertragenen Sinne Wirbelsäulen), die in dem Hohlweg lagen.

Es kann sich bei diesen zuverlässigen Angaben Herodot’s kaum um etwas anderes als um fossile Knochen handeln, die stellenweise in dem Horizonte 5a der oberen Mokattamstufe des ägyptischen Alttertiärs sehr häufig auftreten. Nach der Schilderung Herodot’s der von den aus Arabien, also von Osten her, gegen das Niltal vorbrechenden fliegenden Schlangen spricht, bezieht sich die Darstellung des Fundortes wohl kaum auf eine andere Stelle als auf den Ostabfall des Mokattamgebirges, was auch mit der von Herodot angegebenen Entfernung von Memphis stimmen würde. Im Frühjahr, also nach der Regenzeit, pflegen aus dem fossilführenden Horizonte 5a der Mokattamstufe, z. B. im Fayum, die Knochen fossiler Wirbeltiere in Menge auszuwittern, und da Herodot sich selbst von dem Vorkommen der „Akanthai“ in dem Hohlweg überzeugen konnte, so erscheint damit das Rätsel von der Entstehung dieser Fabel befriedigend gelöst. Wie ich 1914 darzulegen versuchte, werden daher die Archäologen die vergeblich gesuchte Stadt Buto aller Wahrscheinlichkeit nach im Osten des Mokattamgebirges zu suchen haben (9).

(9) Verhandl. K. K. Zool.-Bot. Gesellschaft in Wien, 65. Band, 1915. S. 115.

Wenn aber noch bis in das XVII. Jahrhundert hinein mit so auffallender Hartnäckigkeit an der Fabel von der Existenz fliegender Drachen auf dem Boden Deutschlands, wenigstens vorzeitlicher, festgehalten wurde, so mag dabei doch auch noch ein anderes Moment mitspielen, worauf ich schon früher einmal aufmerksam gemacht habe (10). Athanasius Kircher stellt in seinem schon genannten „Mundus subterraneus“ einen Drachenkampf dar, wobei das Aussehen des Drachen nicht mehr dasselbe ist wie auf den Bildern aus der Zeit Gesner’s und der von seinen Werken beeinflussten Schriften späterer Zeit. Der Drache hat hier (Fig. 3) einen auffallend langen und schlanken Hals und auf seinem Rücken stehen zwei lange, schmale und spitze Flügel, also keine Fledermausflügel mehr wie auf den älteren Bildern. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, dass das Bild dieses Drachens so sehr an die Körpergestalt und Flossenform eines Plesiosaurus (Tafel IV) erinnert, dass kaum an einen Zufall gedacht werden kann. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass in den Liasschiefern Schwabens, in denen die Skelette von Plesiosauriern heute gefunden werden, zweifellos auch schon in früheren Jahrhunderten derartige Funde gemacht worden sind, nur hat man damals zuerst an Drachen gedacht und das Vorstellungsbild dieser Fabelwesen nach den Funden der fossilen Plesiosaurier abgeändert. Wie schon 0. Fraas (11) betont, zeigen Trümmer auf dem Hohenstaufen, dass dort schon bei der Gründung der Wiege des alten Kaisergeschlechtes Platten gebrochen wurden, wobei sehr leicht solche Funde, wie sie heute gemacht werden, auch schon in früherer Zeit gemacht werden konnten, die den im Volke lebendigen Fabeln und Märchen von Drachen und geflügelten Schlangen immer wieder neue Nahrung zuführen mussten.

(10) Über diese Frage wie überhaupt über das ganze hier behandelte Thema ist manches ausführlicher dargelegt in:
O. Abel: Paläontologie und Paläozoologie. - Kultur der Gegenwart. - (Teil III, Abteilung IV, 4 des Gesamtwerkes, B. G. Teubner's Verlag, Leipzig und Berlin 1914, S. 303 - 394).
- Die Tiere der Vorwelt. - Aus Natur- und Geisteswelt, 399. Bd., B. G. Teubner's Verlag, 1914, S. 30 - 52.
- Die Reste fossiler Tiere im Volksglauben und in der Sage. - Die Naturwissenschaften. Berlin, VII. Bd., 1919, 8. Heft, S. 113, 9. Heft, S. 141.
(11) Vor der Sündfluth! - Stuttgart 1866, S. 41.

Quelle: Die vorweltlichen Tiere in Märchen, Sage und Aberglaube, Othenio Abel, Karlsruhe 1923, S. 21 - 24.