Die fossilen Tierreste als Amulette und im medizinischen Aberglauben

Bei der Art des Verhältnisses, das unsere Vorfahren zu den von ihnen gefundenen Resten vorzeitlicher Lebewesen eingenommen haben, kann es kaum verwunderlich erscheinen, wenn diesen oft so sonderbar gestalteten Dingen übernatürliche

Donnerkeil - Rostrum eines Belemniten

Fig. 13.
„Donnerkeil“, d. i. das Rostrum eines „Belemniten“ (Vertreter eines ausgestorbenen Stammes der dibranchiaten Kopffüßer) aus dem Lias Schwabens, in natürlicher Größe. (Nach F. A. Quenstedt.)

Kräfte, besonders Heilwirkungen zugeschrieben worden sind. Der einfache Landmann wusste nichts mit den Dingen anzufangen, die ihm beim Pflügen seines Ackers entgegentraten, und er weiß auch heute noch sehr oft nichts Rechtes damit anzufangen. Da müssen übernatürliche Kräfte, Hexen, Elfen oder andere gute und böse Geister zur Erklärung dieser rätselhaften Bildungen heran. Wenn der schwäbische Bauer heute einen Belemniten (Fig. 13) findet, so weiß er wohl, dass er eine Versteinerung vor sich hat, aber in früherer Zeit, bevor die Paläontologie in Schwaben so populär geworden war, wie sie es heute seit den Zeiten Quenstedt’s ist, und bevor überhaupt die Gelehrten eine Antwort auf die Frage zu geben wussten, was das für eigentümliche Gebilde seien, die so aussehen, als wären sie künstlich gedrechselt, da musste die Meinung auftauchen, dass vielleicht der Gottseibeiuns hier ein Andenken zurückgelassen habe und so entstand die Bezeichnung „Teufelsfinger“. Andere aber meinten, dass die Belemniten als Geschosse von bösen Geistern, Elfen oder Alben zu deuten seien; daher rührt die Bezeichnung „Albschoss“. Albschoss heißt im dänischen „elleskudt“, d. i. „von den Elfen mit Krankheit geschlagen“, angelsächs. = Ylfa gesceot, engl. dialekt. = awfshots, norweg. dialekt. - alvskoten, wie mir mein Freund und Kollege R. Much mitgeteilt hat; damit hängt auch die Bezeichnung „alfpil“, „alfschot“ (mnd.) zusammen, die eine Augenkrankheit bezeichnet. Was wir „Alpdrücken“ nennen, soll ja richtig „Albdrücken“, d. h. Elfendrücken heißen und hat mit den Alpen nichts zu tun. Da ein Belemnit, gerieben, ziemlich stark nach Ammoniak oder Katzenurin riecht (daher der vielfach noch heute gebrauchte Name „Katzenstein“), so führte dies unsere Vorfahren zu dem Glauben, dass auch die Belemniten eine Heilkraft gegen Augenleiden besitzen müssten, weil ja Ammoniak stark zu Tränen reizt. An anderen Orten, wie an der Nordseeküste, hat der ammoniakartige Geruch der Belemnitellen aus der Schreibkreide, die noch heute z. B. von Rügen in Mengen in das Innere Deutschlands gelangen, zu der Meinung geführt, dass diese Körper versteinerter Urin großer Katzen seien. Dazu kommt, dass gerade die Belemnitellen aus der Oberkreide durch eine schöne, goldgelbe oder goldbraune Farbe ausgezeichnet sind. So entstand die Sage, dass die Belemnitellen versteinerter Luchsurin seien, und sie wurden auch unter dem Namen „Lyncurium“ lange Zeit hindurch als Heilmittel verwendet. Der Luchs, so erzählte man sich, verstecke seinen Urin aus Neid vor den Menschen und verscharre ihn in die Erde. Denn das „Lyncurium“ ist, wie auch der Luchs weiß, ein altbekanntes Heilmittel gegen das Albdrücken oder den „Nachtschrecken“. Dass diese Versteinerungen überhaupt sehr heilkräftig seien, das bezeugen auch andere, die in den Belemniten „Donnerkeile“ sehen, die besser imstande wären, die von bösen Geistern und Hexen den Menschen zugefügten Krankheiten zu heilen, als heilsame Kräuter und andere „natürliche“ Heilmittel. Aber auch gegen Gelbsucht, Wechselfieber, Seitenstechen, Verstopfung, und besonders gegen Harn- und Blasenleiden - wieder infolge ihres bituminösen Geruches - wurden die Belemniten vielfach angewendet. Noch im Jahre 1705 führt Valentini in seiner „Natur- und Materialienkammer“ (29) eine ganze Reihe von verschiedenen Heilwirkungen der Belemniten an. Bei P. Pomet (30) finden wir die genaue Therapie der Belemniten, die, mit Schwefel gebrannt und mit destilliertem Weinessig vermischt, genossen werden müssen, um die gewünschte Heilwirkung zu erzielen.

F. A. Quenstedt berichtet 1849 (31), dass die nach dem griechischen Wort belemnon = Geschoß genannten Belemniten in Schwaben meist unter dem Namen „Rappenkegel“ bekannt waren und dass sie zu seiner Zeit noch in gepulvertem Zustande gegen Augenkrankheiten der Pferde angewendet wurden, wovon schon Karl Nikolaus Lang in seiner „Historia lapidum figuratorum Helvetiae“ (32) erzählt. Ob dies heute noch der Fall ist, habe ich nicht in Erfahrung bringen können.

(29) 2 Bände, 1704 - 1712.
(30) „Histoire générale des Drogues“. Paris 1694, S. 107.
(31) Die Cephalopoden; Tübingen, S. 385.
(32) Venedig, 1708, S. 130.


Die gleiche Therapie galt auch für die sogenannten „Judensteine“. Das sind die einer Eichel oder Olivenfrucht ähnlichen Stacheln einer Seeigelart (Cidaris glandaria) aus der oberen Kreide Palästinas, die seit den Kreuzzügen wiederholt nach Europa gebracht wurden und in der mittelalterlichen Offizin als „Lapides judaici“ eine große Rolle spielten. Sie werden noch heute den Reisenden in Palästina von den Beduinen angeboten; Fig. 14 zeigt die Abbildung eines solchen im Jahre 1889 in Palästina gekauften „Judensteins“. Schon Valentini gibt jedoch an, dass die Judensteine auch in Deutschland zu finden seien, und die ähnlich geformten Stacheln einer anderen Seeigelart (Cidaris globiceps) aus dem Kreide-Grünsand von Essen erfreuten sich neben den echten Judensteinen in früherer Zeit einer besonderen Wertschätzung. Sie galten als besonders heilkräftig gegen Nieren- und Blasenleiden.

Judenstein das ist ein Stachel dr Seeigelart Cidaris glandaria

Fig. 14.
„Judenstein“, d. i. ein Stachel der Seeigelart Cidaris glandaria,
aus der oberen Kreide Palästinas.)

Überhaupt genossen die Reste fossiler Stachelhäuter, also nicht nur die Stacheln, sondern auch die Gehäuse fossiler Seeigel, wie die Stielglieder fossiler Seelilien oder Crinoideen besondere Wertschätzung. Die Seeigelversteinerungen galten als besonders wirksam gegen „pestilenzische Luft“ und Gifte verschiedener Art; sie sollen sich als Amulette im Kampf hervorragend bewährt haben, weshalb man sie gerne in Degenknöpfe fasste. Es hieß aber auch, dass derjenige, der einen versteinerten Seeigel bei sich trage, einschlafen müsse. Besonders in Dänemark galten die fossilen Seeigel (wahrscheinlich die aus der weißen Schreibkreide) als gutes Gegenmittel gegen Zauberei und wurden in Milcheimer und Milchkübel zum Schutze gegen Verhexung des Viehs gelegt, wie dies auch andernorts mit den Ammoniten zu geschehen pflegte, „insonderheit, wenn die Kühe durch Satans Betrug ausgemolken werden“, wie Reiskius bemerkt.

Besondere Heilkräfte sollten auch den Seelilienstielgliedern innewohnen, deren Natur unseren Vorfahren gänzlich unbekannt gewesen ist. Sie erscheinen unter verschiedenen Namen: „Bonifaziuspfennige“, „Trochiten“, „Spangensteine“, ,Asteros sphragis“, „Asterias Gesneri“, „Lapis crucis“, „Oculum belli“, „Oculum mundi“ und „Asteria gemma“ und sollten eine ganze Reihe von Kräften besitzen. Sie erhielten, wie man glaubte, die „Lebensgeister“, erhöhten die Tapferkeit und vertrieben die „Melancholey“; aber sie waren auch heilsam gegen Gift und Biss, Epilepsie und Nasenbluten, Gliederzittern und Lendenweh, Schwindel und Lungenleiden. Außerdem sollten sie die Nachgeburt fördern. Zu Anfang des 17. Jahrhunderts hielt man sie, wie aus den Schriften von Valentini hervorgeht, für eine bloße kristallinische Abart des Antimonits (Spießglanz) und stellte somit ihre organische Natur in Abrede. Es scheint, dass Valentini bei seinen Exemplaren solche aus dem deutschen Lias vor Augen gehabt hat, die ja zumeist in Schwefelkies verwandelt sind.

Freilich ist der Glaube an die Heilkraft der fossilen Echinodermenreste heute so ziemlich verschwunden; ganz ist dies jedoch nicht der Fall. In der schwäbischen Alb werden zwar die fossilen Seeigel heute nur mehr als Wirteln der Flachsspindeln verwendet und man denkt hier nicht mehr an etwaige übernatürliche Kräfte dieser Versteinerungen; aber in Bolheim in Schwaben werden die Stielglieder der fossilen Crinoideengattung Millericrinus noch heute als Amulette getragen, und vor kurzem hat mir Herr W. Roth in Berlin mitgeteilt, dass kleine, flache und gut gerundete Seeigelversteinerungen noch heute in Ostholstein als „Glücksteine“ getragen werden. Die Sternform der fünf Ambulakralfelder mag bei diesem Aberglauben wohl das meiste beitragen, da ja alles, was Sternform besitzt, seit alter Zeit als „glückbringend“ gilt.

Darum haben wohl auch die fossilen Korallen, deren Septen in Sternform angeordnet erscheinen, eine so besondere Bedeutung im Aberglauben unserer Vorfahren gespielt. Man nannte die Korallen „Sternsteine“ oder „Astrolithen“; wie die Sage entstanden ist, dass sie aus dem Kopfe von Drachen stammen, weshalb sie auch den Namen „Dracontia“ erhielten, ist nicht mehr zu ermitteln. Jedenfalls galten sie als vorzügliches Mittel gegen die Pest und sollten auch, nur in der Tasche getragen, vor Spulwürmern schützen; eingenommen, vermochten sie, nach allgemeinem Glauben, die Würmer abzutreiben. In gepulvertem Zustande reinigte ein „Astrolith“ Lunge und Leber und das „Geblüt”; in einem Zimmer aufgehängt, vertrieben sie Spinnen und „andere“ giftige Tiere.

Vor allem aber brachten die Sternsteine unfehlbaren Sieg dem, der einen in der Tasche trug. Daher bemerkt schon Valentini (1704) mit ziemlichem Sarkasmus, warum denn nicht die Armeen mit solchen Strahlsteinen ausgerüstet würden, da man auf diese Weise doch Soldaten sparen könnte. –

Als wirksames Heilmittel galten auch die Steinkerne einer unter dem Namen „Hysterolithus albicans“ bekannt gewesenen fossilen Muschel, besonders gegen verschiedene Frauenleiden (wegen der oberflächlichen Ähnlichkeit mit der weiblichen Vulva), aber auch gegen Hexerei, weshalb sie als Amulette getragen wurden.

Zu den als Heilmittel verehrten Resten fossiler Tiere zählten in deutschen Landen zu mittelalterlicher Zeit auch die „Krötensteine“ oder „Lapides bufonini“, auch „Batrachiten“ genannt. Das sind die halbkugelförmigen Pflasterzähne von großen Riffischen der Juraformation, wie aus den in den Folianten der alten Zeit mitgeteilten Abbildungen mit voller Sicherheit zu ersehen ist. Meist stammten sie wohl von dem großen Lepidotus maximus, einem Schmelzschuppenfisch der oberen Juraformation, Sie sollten aus Krötenspeichel entstanden sein, wie noch zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts geglaubt wurde, wiewohl schon der Engländer Merret erklärt hatte, dass die Krötensteine nichts Anderes als Fischzähne seien. Man hielt die Krötensteine für wirksam gegen Bienen- und Wespenstich, für Heilmittel gegen Wassersucht, ja es wurde behauptet, dass ein Batrachit „zugleich schwitzen und weinen mache“.

Von der Heilkraft des Einhornes gegen Gift und Biss war bereits die Rede, ebenso von der vermeintlichen Heilwirkung der Drachenknochen und des angeblichen „Drachenblutes” oder „Thürschenblutes“, während andere Berichte wieder von der tödlichen Wirkung des Drachenblutes zu melden wissen, wie aus der Sage des von Winkelriedt getöteten Drachen hervorgeht. Es ist eine ganz merkwürdige Erscheinung, dass an den verschiedensten Orten an die Kraft der fossilen Reste gegen Gift und Biss geglaubt wurde. So hat man auch die vielen Orts gefundenen fossilen Fischzähne für Gegenmittel gegen Gifte angesehen. Das sind die „Glossopetren“ oder Zungensteine des Plinius (Fig. 15). Sie finden sich in der alten Literatur unter verschiedenen Namen beschrieben, als Natternzungen, Schwalbensteine, Lamiodonten usw., aber schon Andrea Cesalpini (1519 - 1603), Fabio Colonna (1616) und Nikolaus Steno (1638 - 1687) zeigten, dass die Glossopetren nichts Anderes als versteinerte Fischzähne seien. Trotzdem glaubten die breiten Volksschichten noch lange nachher an die Heilkräfte der Glossopetren, und die Quacksalber bestärkten das Volk in dem Glauben, dass es vorteilhaft sei, solche Steine am Hals oder an den Armen zu tragen, „…man legt sie in Wein oder Wasser ... sie dürfen aber nicht gefälscht und müssen aus Malta sein“.

Glossopetren oder Zungensteine

Fig. 15.
„Glossopetren“ oder ,,Zungensteine“, d. s. fossile Haifischzähne aus dem Tertiär der Insel Malta, deren Natur schon im 16. Jahrhundert richtig erkannt worden ist. (Aus der „Protogaea“ von Leibniz, 1749).

In China gelten Zähne und Knochen fossiler Säugetiere noch heute als ganz besonders schätzbare Heilmittel. In den tertiären und quartären Schichten des Reiches der Mitte kommen, wie man jetzt weiß, fossile Säugetiere in großen Mengen vor, doch werden die Fundstellen von den Chinesen ängstlich geheim gehalten. Sowohl die Zähne, die als „Drachenzähne“ oder Lung-tschih verhandelt werden, als auch die „Drachenknochen“ oder Lung-ku bilden einen sehr begehrten Handelsartikel, und die Preise schwanken bedeutend, je nachdem es sich um große, weiße Drachenzähne (Fun-lung-tschih) oder um kleine, schwarze Zähne (Tsing-lung-tschih) handelt. Natürlich werden diese kostbaren Heilmittel vielfach mit den Knochen und Zähnen von rezenten Säugetieren durchmischt und gefälscht. In einem großen, aus der Zeit des Kaisers Ch’ien-hung stammenden medizinischen Werke (1736 - 1796) sind die Heilkräfte der „Drachenreste“ und ihre Therapie ausführlich angegeben. Es gibt fast keine Krankheiten, gegen die die Lung-ku und die Lung-tschih nicht wirksam wären. Je nach der Erkrankung sollen sie mit Fett geröstet oder roh genossen werden, entweder mit kaltem oder mit warmem Reiswein vermischt. Über die Herkunft der „Drachenknochen“ haben die Chinesen ganz sonderbare Vorstellungen: sie sollen von den Drachen herrühren, die infolge des Mangels an Wolken und Regen nicht mehr imstande waren, sich wieder in den Himmel emporzuschwingen.

Quelle: Die vorweltlichen Tiere in Märchen, Sage und Aberglaube, Othenio Abel, Karlsruhe 1923, S. 54 - 62.