Die Herkunft der Versteinerungen im früheren und im heutigen Volksglauben

Dass sich schon in sehr weit zurückliegenden Zeiten jene Menschen, die zum ersten Male mit irgendeinem auffallenderen Fund eines fossilen Tierrestes in Berührung kamen, Gedanken über seine Herkunft und Entstehung gemacht haben, ist leicht begreiflich.

Wir haben gesehen, in welcher Weise die Sagen, Märchen und Fabeln von den Lindwürmern und Drachen, vom Basilisken und vom Einhorn, von den Krötensteinen und den Schoßsteinen entstanden sind. Bevor man erkannt hatte, dass die in den Gesteinen begrabenen Fossilreste nichts anderes darstellen als die Leichenteile von einstmals auf der Erdoberfläche lebenden Wesen, war einer phantastischen Deutung dieser Gebilde und Erklärung ihrer Herkunft und Entstehung Tür und Tor geöffnet.

Bei den Pyramiden von Gizeh bei Kairo findet man stellenweise den Boden mit ausgewitterten Nummuliten, den „Münzensteinen“ der mittelalterlichen Literatur, ganz überstreut. Diese in ihrer Größe an Linsen erinnernden Gebilde, die deshalb auch zuweilen „Linsensteine“ oder „Lenticuliten“ genannt worden sind, konnten schon den Alten nicht entgehen. Für die Art der Beobachtung im Altertum ist es aber überaus bezeichnend, dass Strabo, der zuerst die Nummuliten von den Pyramiden beschreibt, übersehen hat, dass sie ja nicht auf dem Boden allein verstreut vorkommen, der die Pyramiden umgibt, sondern dass sie im Baustein der Pyramiden selbst stecken und dass überall dort, wo das gleiche Gestein, ein eozäner Nummulitenkalk, zu finden ist, wie im Mokattamgebirge auf der anderen Seite des Nils, überall die gleichen Nummuliten zu Millionen den Boden bedecken. Gleichwohl trägt Strabo allen Ernstes die Behauptung vor, es seien die Nummuliten nichts als die seither versteinerten Linsen, die von den Arbeitern beim Baue der Pyramiden übriggelassen worden seien.
Auch in der mittelalterlichen Literatur spielten die Nummuliten eine große Rolle; erwähnt sei, dass die auch in Palästina auftretenden und auch hier bei der Verwitterung des Gesteines lose auf dem Boden zurückbleibenden Versteinerungen als „Pisa bethlehmitica“, also als Erbsen von Bethlehem bezeichnet wurden, von denen es heißt, dass sie „rechte Erbsen seien, so verflucht zu Stein werden müssen“ (Valentini, 1704). Aber bei Csucsa im ungarischen Komitate Szilágy hat sich das Volk, dem die Nummuliten nicht entgangen sind, die sich im dortigen Erdreich finden, eine andere Erklärung zurechtgelegt: Hier heißen die Nummuliten „Sanct-Ladislaus-Pfennige“ und werden mit den Schlachten in Zusammenhang gebracht, die der heilige Ladislaus gegen die Tartaren zu Ende des dreizehnten Jahrhunderts schlug.

So finden wir noch an vielen Orten die Versteinerungen eines engeren Fundgebietes mit historischen Ereignissen oder mit Legenden in Verbindung gebracht. Am Eifer des Plattensees in Ungarn spülen die Wellen in Mengen die Wirbel einer tertiären Muschel, der Congeria ungula caprae, aus den Schichten der pontischen Stufe an das Ufer (Fig. 16). Seit langer Zeit kennt der dortige Uferbewohner diese Gebilde und hält sie für versteinerte Ziegenklauen; der wissenschaftliche Name hat diese Deutung, die das Volk den dortigen Congerien gegeben hat, festgehalten. Nach der Volkssage stammen diese Überreste von Ziegen von einem Geizhalse, der dem durch Geldnot bedrängten König Andreas I, (1046 -1058) keine Aushilfe gewähren wollte und dafür vom Himmel mit der Vernichtung seiner Herden gestraft wurde. Das ist dieselbe Vorstellung, zu der die Beduinen beim Berge Karmel in Palästina gekommen sind, wo sie in den ausgewitterten Seeigeln versteinerte Melonen sehen; als Christus über Land gegangen war und dürstend um eine Melone bat, sei ihm diese verweigert worden, worauf er das ganze Melonenfeld verfluchte, das zu Steinen wurde. Sehr häufig kehrt diese Vorstellung von durch einen Fluch versteinerten Wesen wieder, und vor allem sind es ja, wie bekannt, Bergformen von menschenähnlicher Gestalt, die als Zeugen einer solchen durch einen Fluch gestraften Untat der Nachwelt aufbewahrt geblieben sind: Lots Weib, Frau Hitt bei Innsbruck, Watzmann mit seinen Söhnen und viele andere.

Versteinerte Ziegenklauen


Fig. 16.
„Versteinerte Ziegenklauen“, d. s. die abgerollten Wirbel einer Muschel (Congeria ungula caprae) aus dem oberen Tertiär (unteres Pliozän) am Plattensee in Ungarn., (Originale im Palaeobiologischen Lehrapparat der Universität Wien).

Vielfach erscheinen auch uralte religiöse Vorstellungen mit versteinerten Tierresten verwoben. Das tritt sehr deutlich bei den „Blitzsteinen“ und „Donnersteinen“ hervor, von denen die Schriften des Mittelalters so viel zu erzählen wissen. Es erscheint zuerst merkwürdig, dass unsere Vorfahren sowohl den versteinerten Seeigeln als den durchlöcherten, neolithischen Steinäxten den gleichen Namen gegeben und ihnen die gleiche Kraft zugeschrieben haben. Noch heute sollen versteinerte Seeigel im Volksglauben in Oldenburg gegen den Blitz schützen, wie A. Wuttke anführt (33). Diesen Schutz üben sie als „Donnersteine” aus. Diese Kraft ist eben immer durchlöcherten Steinen eigen und daher kommt es, dass auch die vom Nahrungskanal durchbohrten Stielglieder fossiler Crinoideen vielfach als Blitzsteine oder Donnersteine hoch in Ehren gehalten wurden. Wahrscheinlich liegt hier eine Ideenverbindung mit der Beobachtung von Blitzröhren vor. In den Schriften von G. Agricola (= Georg Bauer, 1494 - 1555) und C. Gesner (1516 bis 1565) finden wir viele Angaben über „Gewittersteine“, „Ombria“ oder „Ceraunia“ und ihre Bedeutung. Wenn sich in der Pfalz und in Böhmen noch der Glaube erhalten hat, dass ein „Donnerkeil“, womit freilich meist neolithische Steinäxte gemeint sind, durch den Blitz sieben Klafter tief in den Boden geschlagen wird, aber jedes Jahr um ein Klafter wieder in die Höhe steigt, so mag dies noch der letzte Rest der aus uralter Zeit stammenden Vorstellung sein, dass der von Donar geschleuderte Hammer immer wieder in seine Hand zurückkehrt.

(33) Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart. Berlin 1869, S. 88.

Das Volk greift immer entweder nach einer Erklärung, die mit seinen religiösen Vorstellungen übereinstimmt, oder nach einer Deutung, die es aus dem Kreise der ihm geläufigen Überlieferungen und Erfahrungen wählt. So können wir verstehen, warum der Bergbewohner im Gebiete des Dachsteinmassivs in unseren Kalkalpen in den aus dem Dachsteinkalk auswitternden Querschnitten der „Dachsteinbivalve“ (Megalodus) versteinerte „Kuhtritte“ erblickt. Die sonderbare Gestalt mancher Versteinerungen verleitet dann bald zu der Annahme von Zauberzeichen. Noch heute lebt in der Gegend von Hinterstoder und Windischgarsten in Oberösterreich die Vorstellung fort, dass die aus dem grauen Kalkstein der Gosauformation (Oberkreide) weiß hervortretenden Spiralen der Schneckengattung Actaeonella Zauberzeichen darstellen (Taf. IV). Darum legt der Bergbauer noch heute, wenn auch nur mehr verstohlen, solche Steine, die er „Wirfelstoaner“ (Wirfelsteine oder Wirbelsteine) nennt, in den Brunnentrog, aus dem er sein Vieh tränkt, in der Meinung, dass diese Zauberzeichen ein Heilmittel gegen den „Wirfel“, d. i. die Drehkrankheit des Viehs, darstellen. Noch immer hält man in Ostindien die Ammoniten in hohen Ehren und nennt sie „Salagrama“ oder Götterräder („Chakras des Vischnu“); die Gläubigen tragen sie aus den Spiti-Shales (Schiefer der oberen Jura- und unteren Kreideformation) bergan bis auf die Passhöhen und häufen sie dort zu Steinhügeln auf. –

Freilich ist vieles, was unsere Vorfahren von den fossilen Tierresten gedacht haben, im Laufe der Jahrtausende vergessen worden. Viele Sagen und Märchen, die sich an Fossilfunde geknüpft haben, sind verschollen. Aber das Wenige, was uns durch die Überlieferung im Volke oder in den Folianten der Scholastikerzeit noch erhalten geblieben ist, aus einer Zeit, da sich sowohl der einfache Mann wie der Gelehrte hinter seinen Pergamenten eines Grauens nicht erwehren konnte, wenn wieder einmal die Nachricht von dem Auftreten eines Basilisken oder eines feuerspeienden Lindwurmes oder eines anderen Unholdes aufflatterte, aus einer Zeit, die überall Riesen und Einhörnern und anderen Fabelwesen zu begegnen fürchtete, gibt uns doch einen Hinweis darauf, wie innig so viele Sagen und Märchen mit den Funden fossiler Tierreste verknüpft sind, die sich uns heute, ihres ganzen ehemaligen Zaubers entkleidet, freilich viel nüchterner darstellen als unseren Ahnen in alter Zeit.

Quelle: Die vorweltlichen Tiere in Märchen, Sage und Aberglaube, Othenio Abel, Karlsruhe 1923, S. 62 - 66.