Zyklopen und Riesen

Dass die seit dem Altertum immer mehr Boden gewinnenden Sagen und Märchen von Lindwürmern und Drachen so häufig von Riesensagen begleitet werden, hat in der überwiegenden Mehrzahl aller näher bekannten Fälle seinen Grund in Funden großer Knochen vorzeitlicher Säugetiere.

Da unseren Vorfahren die Vorstellung fremd war, dass die Erdoberfläche in grauer, weit hinter der Geschichte und Entstehungszeit des Menschengeschlechtes zurückliegender Zeit von fremdartigen, seither längst ausgestorbenen und zum Teile riesigen Tieren bewohnt war, so mussten Funde großer Knochen und Zähne bei diesem Mangel an richtiger Urteilsfähigkeit zu der Annahme führen, dass die Erde in der Vorzeit von riesigen Menschen bevölkert gewesen sei. Und so, wie aus dem Funde von Schädeln und Zähnen oder anderen Skeletteilen von Höhlenbären in Felsklüften und Höhlen oder aus dem Funde fossiler Skelette in Steinbrüchen, bei der Anlage von Gräbern, Brunnen, Kanälen usw. die Sagen von Drachen und Lindwürmern immer neue Nahrung fanden, so war das auch mit den Riesensagen der Fall, die scheinbar immer wieder neue Bestätigung erhielten, wenn irgendwo gewaltige Knochen oder Zähne vorzeitlicher Säugetiere vor den staunenden Augen der Fundzeugen zutage traten.

In vielen Fällen ist es schwierig, den genauen Hergang bei der Entstehung solcher Riesensagen bis in alle Einzelheiten zu verfolgen, aber in einigen gelingt es doch bei sorgfältiger Prüfung aller Umstände, die späteren Zutaten von den tatsächlichen Funden loszulösen und so den Kern mancher Riesensagen herauszuschälen.

Eine der bekanntesten, bis weit in die vorhomerische Zeit zurückreichende Riesensagen ist die von den Zyklopen Siziliens, besonders die vom Zyklopen Polyphem, den nach Homer der göttliche Dulder Odysseus durch seine List blendete.

Nach den Vorstellungen der Seefahrer zurzeit der trojanischen Helden, also in mykenischer Zeit (um die Mitte des 2, Jahrtausends v. Chr.), herrschten in Sizilien riesenhafte Menschen mit einem einzigen, großen Auge auf der Mitte der Stirne, Homer schildert uns, dass Odysseus mit seinen Gefährten auf seinen Irrfahrten nach der Zerstörung Trojas auch in das Land der Zyklopen kam und eine Höhle aufsuchte, ohne zu wissen, dass er das Heim des Riesen Polyphem betreten hatte. Spät abends trieb der Riese seine Schafherde in die Höhle, verschloss sie mit einem gewaltigen Stein und entdeckte die eingeschlossenen Seefahrer. Wie Polyphem sechs Gefährten des Odysseus mordete und fraß, dann von Odysseus trunken gemacht und geblendet wurde, und wie der schlaue Odysseus dann entkam, berichtet Homer mit allen Einzelheiten im neunten Gesänge der Odyssee.

Nun ist es sehr sonderbar, dass gerade Sizilien im Altertum als die Heimat der einäugigen Zyklopen gegolten hat. Man hat versucht, diese sonderbare Vorstellung dadurch zu erklären, dass schon damals gewisse Monstrositäten bei Haustieren, die man als „Zyklopen“ bezeichnet, bekannt gewesen seien. Von anderer Seite ist es als wahrscheinlich hingestellt worden, dass schon in sehr früher Zeit der Gorilla bekannt gewesen sei und dass die Polyphemsage auf ein Zusammentreffen mit einem Gorilla zurückzuführen sei. Beide Erklärungsversuche sind durchaus gekünstelt und unwahrscheinlich.

Wenn wir prüfen, auf welche Umstände die Sage von der Existenz der einäugigen Zyklopen zurückgeführt werden kann, so müssen wir uns fragen, welche noch heute uns zugänglichen Tatsachen an der Entstehung einer so eigenartigen Sage mitgewirkt haben können.

In den unweit des Meeresstrandes gelegenen Höhlen der Gegend von Messina und an vielen anderen Stellen Siziliens, wie bei Palermo und Trapani, findet man noch heute Reste von zwerghaft kleinen Elefanten, die in der Eiszeit lebten und die unter dem Namen Elephas mnaidriensis beschrieben worden sind. Im klassischen Altertum sind solche Funde wiederholt gemacht worden; so berichtet Empedok1es (492 - 432 v. Chr.) von solchen Funden und hält sie für Beweise von der Existenz eines erloschenen Gigantengeschlechtes. Später berichtet Giovanni Boccaccio (1313 - 1375) im vierten Bande seiner „Genealogia deorum“ (16) von dem Fund der Überreste des Zyklopen Polyphem in einer Höhle bei Trapani im vierzehnten Jahrhundert (Fig. 8). Noch gegen Ende des siebenzehnten Jahrhunderts scheinen diese Reste noch vorhanden gewesen zu sein, denn Athanasius Kircher schreibt in seinem „Mundus subterraneus“, dass er diese Reste noch gesehen und ihre Fundstelle besucht habe, aber seiner Schätzung nach sei der Riese Polyphem nicht, wie Boccaccio behauptet hatte, 300 Fuß, sondern höchstens 30 Fuß lang gewesen.

(16) Giov. Boccaccio: Genealogia deorum. IV. Buch, Kap. LXVIII.

Riesen nach A. Kircher, 1678

Fig. 8.
Riesen. (Nach A. Kircher, 1678.)

Dass Funde großer Knochen vorzeitlicher Elefanten in sizilianischen Höhlen Veranlassung zur Entstehung der Zyklopensage gegeben haben, gewinnt aber nun durch die bestimmte Angabe von der Einäugigkeit dieser Riesen besondere Wahrscheinlichkeit.

Wenn wir irgendeinen Elefantenschädel von der Vorderseite betrachten, so wird uns sofort das mitten auf der Stirne stehende große, querovale und in der Mitte eingeschnürte Loch auffallen, das so aussieht, als wenn die beiden Augenhöhlen eines Menschenschädels miteinander verschmolzen wären (Fig. 9).

Elefantenschädel von vorne gesehen

Fig. 9.
Elefantenschädel, von vorne gesehen, um die ein auf der Stirne stehendes Auge vortäuschende Nasenöffnung zu zeigen.

Dieses Loch hat nun freilich mit den Augenhöhlen des Elefanten nichts zu tun, denn es ist die Nasenöffnung; die beiden Augenhöhlen stehen, in der Vorderansicht nicht sichtbar, an den Seiten des Schädels, dessen starke Wölbung entfernt an die eines menschlichen Schädels erinnert.

Nun dürfen wir nicht vergessen, dass die anatomischen Kenntnisse nicht nur im Altertum, sondern noch in viel späterer Zeit so geringe gewesen sind, dass selbst ein Naturforscher wie Johann Jakob Scheuchzer (1672 - 1733) aus dem Skelette eines in den Miozänschiefern von Oeningen in Baden gefundenen Riesensalamanders, des berühmten Andrias Scheuchzeri, wie er später genannt wurde, das „betrübte Beingerüst eines alten Sünders“ machte, ,,so in der Sündflut ertrunken“. Wir werden daher auch wohl kaum bei den Seefahrern der mykenischen Zeit größere Kenntnisse der vergleichenden Anatomie voraussetzen dürfen. Dazu kommt aber noch, dass in dieser Zeit der Elefant im Kulturkreise der Mittelmeervölker vollständig unbekannt war, und dass somit niemand auf den Gedanken verfallen konnte, in einem in einer sizilianischen Knochenhöhle gefundenen Elefantenschädel einen solchen zu erblicken. Die Form des Schädels musste am ehesten an die eines Menschen, freilich in sehr viel größeren Dimensionen, erinnern und die Form und Lage der mitten auf der Stirne stehenden Öffnung konnte bei naiver Beurteilung kaum anders als die beiden miteinander verschmolzenen Augenhöhlen dieses vermeintlichen Riesen gedeutet werden.

Ich bin daher, wie ich schon 1914 dargelegt habe, zu der Überzeugung geführt worden, dass Seefahrer zur Zeit des trojanischen Krieges aus Sizilien die Kunde von der Existenz der einäugigen Zyklopen in ihre Heimat gebracht haben. Sie konnten in einer nahe am Strande gelegenen Höhle Schutz vor Unwetter gesucht und beim Anzünden des Lagerfeuers einen aus dem Höhlenlehm aufragenden Schädel eines vorzeitlichen Elefanten erblickt haben, der in ihnen die Vorstellung von einäugigen, menschlich gestalteten Riesen erweckte.

Alles andere in der uns überlieferten Polyphemsage ist spätere Zutat aus einer Zeit, die überall Göttern und Göttersöhnen zu begegnen glaubte und eher geneigt war, übernatürliche Dinge anzunehmen, als die sie umgebende Welt mit unbefangenen Augen zu betrachten. Die Übertreibungslust heimkehrender Seefahrer wird auch das Ihrige zu der Entstehung und weiteren Ausgestaltung dieser Sage mit allen Einzelheiten der Bekämpfung und Überlistung des Riesen Polyphem beigetragen haben.

Berichte über die Funde großer Knochen und ganzer, riesiger Skelette, die allgemein für Überreste der Giganten oder Titanen und für die Gebeine von Heroen gehalten wurden, finden sich bei vielen Schriftstellern des klassischen Altertums. So erzählt Herodot von der Entdeckung eines sieben Ellen langen Riesenskelettes, das bei einer Brunnengrabung in Tegea von einem Schmied entdeckt wurde. Die Spartaner sahen in den Gebeinen die des Orestes und entwendeten sie nächtlicher Weile, da ein Orakelspruch der Pythia den Spartanern den Sieg verheißen hatte, wenn sie sich die Gebeine des Orestes, des Sohnes Agamemnons, verschaffen würden. Offenbar handelt es sich auch in diesem Falle um die Ausgrabung des Skelettes irgendeines größeren fossilen Säugetieres, doch ist es heute nicht mehr zu entscheiden, welche Art es gewesen sein mag. Ebenso können wir aus der Angabe des Pausanias, dass bei Milet das zehn Ellen lange Gerippe des Telamoniers Ajas gefunden worden sei, nur entnehmen, dass auch in diesem Falle der Fund eines fossilen Großsäugetiers vorliegen muss, aber wir können nicht sagen, welches dabei in Betracht kommen könnte, da ja diese Knochen schon im Altertum verschollen sind.

Der Schriftsteller Suetonius erwähnt in seiner Geschichte der römischen Kaiser (17), dass noch zu seiner Zeit, also in der Regierungszeit des Kaisers Hadrian, auf der Insel Capri die Sammlung des Kaisers Augustus zu sehen war, der hier eine Anzahl von Riesenknochen in seiner Villa zusammengebracht hatte; zweifellos sind auch diese Knochen die Reste fossiler Großsäugetiere gewesen, die ja noch bis ins siebenzehnte Jahrhundert hinein für die Überreste von Riesen galten, wenn sie bei irgend einer Erdbewegung an das Tageslicht gelangten.

(17) Kaiserbiographien, verdeutscht von A. Stahr. Stuttgart 1864, Kap. 72, S. 174.

Der heilige Augustinus erwähnt, dass er bei Utica einen riesigen Menschenzahn gesehen habe, der Hügel wie ein menschlicher Backenzahn besessen haben soll und so groß gewesen sei, dass man aus ihm etwa 100 Menschenzähne hätte machen können; diese Beschreibung lässt darauf schließen, dass ihm der Backenzahn eines Mastodonten vorlag, der durch seine Höckerbildung, wenn auch nur bei sehr oberflächlicher Betrachtung, an einen Menschenzahn erinnern könnte.

Dass eine Zeit, wie die des Mittelalters, in der überall Drachen- und Lindwürmersagen entstanden, auch der Entstehung der Riesensagen günstig war, kann uns kaum wundern. Überall, wo ein großer Knochen, ein mächtiger Schädel oder Unterkiefer oder Gliedmaßenknochen eines fossilen Großsäugetieres ausgegraben wurden - und solche Funde sind bei der regen Bautätigkeit vergangener Jahrhunderte gewiss nicht selten gewesen - gab es immer wieder neues Erstaunen vor den gewaltigen Dimensionen der riesenhaften Menschengebeine aus vergangener Zeit. Suidas berichtet über einen Riesenknochen, der beim Bau der Kirche von St. Mena zu Konstantinopel gefunden und vom byzantinischen Kaiser Anastasius in dessen Palaste aufbewahrt wurde; und als, dreizehnhundert Jahre später, am 9. Juni 1806, bei Demotika in der Nähe von Adrianopel Reste eines großen fossilen Säugetieres, möglicherweise die eines tertiären, zutage kamen, wusste das „Journal de Paris“ wieder von einem Riesenfund zu berichten.

Groß ist die Zahl der einzelnen, in der Literatur weit verstreuten Berichte von Riesenknochenfunden. Vielfach brachte man sie mit der Legende vom heiligen Christophorus in Zusammenhang, und an vielen Orten, so in Valencia, wurden und werden zum Teil noch Knochen und Zähne vorzeitlicher Elefanten als Reliquien des hl. Christophorus verehrt.

Zu den berühmtesten „Riesenfunden“ zählt der des Cimbernkönigs Teutobochus, der im Kampfe gegen Marius gefallen war. Im Chaumonter Feld in der Dauphiné, das seit alten Zeiten den Namen „le champ des Géans” führt, da dort wiederholt riesige Knochen gefunden worden waren, kam am 11. Januar 1613 das Skelett eines Dinotherium zum Vorschein, dessen Reste noch heute im Jardin des Plantes in Paris aufbewahrt werden.

Ein „Chirurge“ namens Mazurier , der in der Geschichte der Paläontologie eine traurige Berühmtheit erhalten hat, grub diese Knochen aus und gab vor, sie in einem dreißig Fuß langen, ausgemauerten Grabmal vorgefunden zu haben, auf welchem der Name des Cimbernkönigs stand. Mit diesen Funden reiste Mazurier weit umher, es entstand ein heftiger Streit unter den Gelehrten um die Echtheit des Fundes, und insbesondere an der Pariser Akademie tobte der Kampf um den Cimbernkönig durch fünf Jahre, ob es Riesenknochen seien oder ein Naturspiel, das im Chaumonter Feld ausgehoben ward. In den „Recherches sur les Ossemens fossiles“ hat Cuvier die Geschichte dieses Fundes sowie eine große Zahl anderer angeblicher Riesenfunde übersichtlich geschildert.

Zu den bekannteren „Riesen“ gehört der sogenannte „Luzerner Riese“. Im Jahre 1577 kam beim Kloster Reyden in der Schweiz unter den Wurzeln einer vom Sturme gefällten Eiche das Skelett eines Riesen zum Vorschein, das der gelehrte Doktor Felix Plater genau untersuchte und für das Gerippe eines Riesen von neunzehn Fuß Länge erklärte (Fig. 8, „Helveticus gigas“). Nach dem Bericht von Scheuchzer existierten im Jahre 1706 noch ein Stück des Schulterblattes und zwei Handwurzelknochen; zu Cuvier’s Zeiten war noch eine Zeichnung des Fundes im Jesuitenkloster vorhanden; zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts hat Blumenbach diese Reste noch gesehen und sie für die Knochen eines fossilen Elefanten erklärt.

In Gebieten, in denen der von Winden in der Eiszeit zusammengeblasene und aus den Stromniederungen auf die Ufergehänge oft weithin verwehte Löß gebildet wurde, der das Grab zahlreicher Großsäugetiere der Eiszeit darstellt, sind bei Erdaushebungen seit uralter Zeit Knochen und Zähne des Mammuts zum Vorschein gekommen, die, entsprechend den herrschenden Ansichten früherer Zeiten, nicht nur von den breiten Schichten der Bevölkerung, sondern auch von den Gelehrten, fast immer für die Reste vorzeitlicher Riesen gehalten worden sind. Auch in Wien, dessen Untergrund in den tieferen Schichten von tertiären, in den höheren von quartären Ablagerungen - Löß und Schotter - aufgebaut ist, sind solche Funde wiederholt gemacht worden, In der „Wienerischen Chronika“ weiß Lasius mancherlei von den Funden der Gebeine der Riesen Gog und Magog zu berichten (18). Das romanische Portal des St. Stephansdomes in Wien führt seit alten Zeiten den Namen „das Riesentor“, obwohl es das kleinste der drei Portale ist. E. Suess (19) hat 1862 nachgewiesen, dass diese Bezeichnung als „Riesentor“ auf einen Riesenknochen zurückzuführen ist, der am Portale befestigt war. Noch im Jahr 1729 sah der Reisende F. E. Brückmann aus Wolfenbüttel große „Riesengebeine“ an der Stephanskirche befestigt, hebt aber hervor, dass diese Bezeichnung schlecht und irrig sei: „Ejusmodi magna ossa, gigantum male falseque dicta, Viennae Austriae ad templum Divo Stephano dicatum appensa haerent (20).

(18) Wolfgang Lasius: Wienerische Chronika. (Aus dem lateinischen Original: „Vienna Austriae, Rerum Viennensium Comrnentarii“ ctc., Basel 1546, von Heinrich Abermann ins Deutsche übertragen). Wien 1619, III. Buch, S. 102,
(19) Der Boden der Stadt Wien, S. 138.
(20) „Große Knochen dieser Art, schlecht und fälschlich „Riesengebeine“ genannt, sind in Wien (Österreich) an der Stefanskirche aufgehängt.“ Epistola itiner., XII, De gigantum dentibus.

Seit alter Zeit befindet sich in der Sammlung der Universität Wien der Oberschenkelknochen eines Mammuts (Tafel III, untere Figur), auf dessen einer Seite eine zierlich gemalte Schriftrolle die Jahreszahl 1443 zeigt, während auf der Gegenseite der Wahlspruch Kaiser Friedrich III., A. E. I. 0. V., dem Knochen aufgemalt ist. Nun konnte ermittelt werden, dass im Jahre 1444 der Grund zu dem zweiten, unausgebaut gebliebenen Turm der Stephanskirche gelegt worden ist, und es ist wohl die Vermutung gerechtfertigt, dass wir in diesem noch heute erhaltenen Oberschenkelknochen eines Mammuts den Fund besitzen, nach dem das „Riesentor“ seinen Namen trägt, während der von Lasius erwähnte, am Hause „da desz Risen Schienbaine angehencket ist“ angebracht gewesene Knochen, der gleichfalls einem Mammut angehört haben dürfte, nicht mehr existiert.

Auch die Überreste des „Kremser Riesen“ sind, wenn auch nur zum Teil, noch heute erhalten. Als die Schweden im Jahre 1645 unter Torstenson den Rückzug vor den kaiserlichen Truppen antreten mussten und donauaufwärts abzogen, warfen sie nördlich von der Stadt, am Hundssteige, an den Abhängen gegen das Kremstal, eine „Retirade mit Wercken” auf. Bei der Anlage der Schanzgräben kamen nun verschiedene Reste eines vermeintlichen Riesen zum Vorschein, die zum Teile in Krems im Jesuitenkollegium verblieben, zum anderen Teile in die Welt verstreut wurden. Aus der von Merian in seinem „Teatrum europaeum“ im Jahre 1647 (21) mitgeteilten Abbildung eines Zahnes (Fig. 10) ergab sich mit voller Sicherheit, was schon F. E. Brückmann 1729 zuerst erklärt hatte, dass es sich um Reste eines Mammuts handelt, die für Gebeine eines „Riesen“ gehalten worden waren.

(21) V. Bd., S. 639.

Backenzahn des Kremser Riesen

Fig. 10.
Backenzahn des „Kremser Riesen“: der Mahlzahn eines Mammuts (Elephas primigenius), 1645 im Löß des Hundssteiges bei Krems gefunden. Stark verkleinert.
(Nach Merian, 1647.)

Die Knochen des Kremser Riesen waren seit 1770 verschollen. Erst im Jahre 1911 konnte ich, worüber Prof. P. L. Angerer berichtet hat (22), den Nachweis führen, dass der von Merian 1647 abgebildete „Stockzahn des Kremser Riesen“ mit einem Mammutzahn identisch ist, der, wie aus der Stiftschronik hervorgeht, im Jahre 1770 durch den Handelsmann Meyer von Krems in die Sternwarte des Benediktinerstiftes Kremsmünster gebracht worden ist, wo er sich in Gesellschaft anderer Reste des „Kremser Riesen“ noch heute befindet.
Fast jedes Land in Europa hat seinen „Nationalriesen“. Nicht immer sind es fossile Elefantenreste gewesen, die zur Entstehung der Riesensagen Veranlassung gegeben haben; wir haben in der Drachenhöhle bei Mixnitz ein Beispiel dafür, dass auch Höhlenbärenreste zuweilen zu dieser Ehre gekommen sind; und die „Riesenfunde“ bei Antwerpen, von denen Goropius Becanus (gegen 1580) erzählt, sind sehr wahrscheinlich nichts anderes als Knochen fossiler Riesenwale, die im Jungtertiär des Bodens von Antwerpen und in der Umgebung der Stadt stellenweise in ungeheuren Mengen begraben liegen. Der Riese Antigonus von Antwerpen, an dessen sagenhafte Tötung durch den Helden Brabo ein Denkmal von Jef Lambeaux vor dem Antwerpener Rathaus erinnert, ist also wahrscheinlich eine Sagenschöpfung, die auf den Fund tertiärer Walfischknochen zurückgeht.

Durch Missionare sind diese Riesensagen auch auf den Boden Südamerikas verpflanzt worden, und wenn der Franziskaner Torrubia in seiner „Gigantologie espagnole“ (23) über Funde von Riesenknochen in Mexiko und Peru berichtet, so handelt es sich allem Anschein auch hier wieder um nichts anderes als um unrichtig gedeutete Funde von Knochen großer fossiler Säugetiere.

(22) Verhandl. K. K. Geol. Reichsanstalt Wien, 1911, S. 359.
(23) Pater F. Jos. Torrubia: Aparato para la Historia natural Espanola. Madrid 1754. T. I, S. 54 und 79.

Überreich ist die Literatur des XVI., XVII. und auch noch des XVIII. Jahrhunderts an „Gigantomachien“ und es hat auffallend lange gedauert, bis diese Vorstellungen aus den Köpfen der Gelehrten verschwunden sind. Wenn Cuvier diesen Fragen in seinen „Recherches sur les Ossemens fossiles“ noch in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts einen so auffallend breiten Raum widmet, so spricht das dafür, dass ihm daran lag, solche Hirngespinste wie die Riesenfabeln endgültig zu beseitigen.

Im Volk leben aber noch immer die Vorstellungen von der Existenz vorzeitlicher Riesen fort. Die Erinnerung an die Berichte über den Riesen Goliath, den starken Simson und den heiligen Christophorus ist bei der Landbevölkerung noch nicht verschwunden und noch heute kann man gelegentlich der Ausgrabung eines großen Gliedmaßenknochens oder des Backenzahnes eines Mammuts im Löß von den Umstehenden die Meinung hören, dass diese Gebeine doch sicher von Riesen herrühren müssen. Wenn auch nicht mehr so wie in früherer Zeit die Freude an Märchen und Sage besteht und die Leute im allgemeinen nüchterner denken, so ist doch eine Gelegenheit wie der ungewöhnliche Fund von sehr großen Knochen und Zähnen auch heute noch oft die Veranlassung zu Übertreibungen beim Weitererzählen, und die so vielen Menschen innewohnende Sucht, eine weitergegebene Erzählung immer ein wenig bemerkenswerter zu gestalten, führt auch noch in unserer Zeit zu mitunter ganz abenteuerlichen Schilderungen. So hat ein Steinbruchsarbeiter, der 1897 eine fossile Schildkröte aus dem Miozän des Leithagebirges (Trionyx rostratus) in das paläontologische Institut der Wiener Universität brachte, mir selbst zwölf Jahre später, da er sich nicht mehr an meine Person erinnern konnte, hoch und heilig beteuert, er hätte vor langer Zeit in dem Steinbruche von Au am Leithagebirge, in dem ich wieder einmal nach Funden Umschau gehalten hatte, einen „ganzen, versteinerten Dragoner mitsamt dem Pferde“ gefunden und um 200 Gulden an die Universität Wien verkauft. So entstehen noch immer Märchen und Fabeln, heute ebenso wie in früherer Zeit.

Quelle: Die vorweltlichen Tiere in Märchen, Sage und Aberglaube, Othenio Abel, Karlsruhe 1923, S. 30 - 44.