1. [Das
treiben des Volkes beim Brünnlein und auf der Jägerwiese]
Berichten wir vorerst
über das was jedermann wahrnehmen kann, der jene Gegend mehrmals
besucht.
An Sonn- und Feiertagen, insbesondere am Johannistag, Charfreitag [Karfreitag],
Dreikönig und zu andern bestimmten Zeiten wird das "Brindl"
von Hunderten förmlich belagert. 12 Uhr Mittags und 12 Uhr Mitternachts
hält man für die beste Zeit. Es kommt auch vor, daß manche
ihr Nachtlager im Walde aufschlagen und mit geweihter brennender Wachskerze
denselben durchstreifen; wenn sie ermüden, so zeichnen sie mit geweihter
Kreide einen Zauberkreis, lassen sich in demselben nieder und glauben
sich geschützt vor den Geistern, die in jener Gegend sich vorzugsweise
aufhalten. Auch am Tage hat das ganze treiben etwas geheimnisvolles. Auf
der verrufenen Jägerwiese trifft man ganze Gruppen, deren jede sich
um eine Profetin schart. Da erfahren denn die Leute, wie man sich zu verhalten
habe, wenn Karl oder die Agnes sich zeigen sollten, welche Nummern sie
in die Lotterie zu setzen haben, was die Zukunft jedem einzelnen bringen
werde u. dgl. Bei einer anderen Gruppe bietet einer Glücksnummern
zum Verkaufe, dort theilt eine Alte - natürlich nicht umsonst - sympathetische
Heilmittel aus. Beim Brünnlein selbst sind mehrere Bäume mit
Bildnissen behangen; Weiber blättern in Planetenbüchern und
Würfeltische stehen umher. Andere drängen sich zur Quelle und
schauen mit der grösten Spannung auf den Grund, um aus den Figuren
des Schlammes oder auf Steinchen die Nummern zu entdecken, die bei der
nächsten Ziehung herauskommen. Glauben sie eine Nummer entdeckt zu
haben, so waschen sie sich die Augen mit Wasser aus und schreiben die
Ziffer auf. Manche legen Steine auf den Grund und murmeln halblaute unverständliche
Worte vor sich hin. Hinter sich hört man Kartenschlägerinnen
oder alte Weiber, die aus den Planetenbüchern lesen, nach Tag und
Monat der Geburt fragen, um daraus die Zukunft zu profezeien. Nicht selten
entstehen Wortwechsel, indem man sich ärgert an denen, die Zweifel
äußern oder das treiben spöttisch belachen. In einiger
Entfernung erzählt eine Alte geheimnisvoll von dem "grünen
Thor," das unter dem Brünnlein zu dem Kristallpalast führe,
aber nur die können Eintritt finden, welche an die Wirkung des Brünnleins
glauben.
Ein sicheres Mittel die Gewinnnummern öfter zu wissen, ist folgendes:
Man suche auf der Agneswiese einen Stein, lege ihn in's Wasser des Brünnleins,
bete dabei und stecke dann den Stein hinter das Kopfküssen, so wird
man jede Woche 5 Nummern ablesen können, welche gezogen werden. Oder
man suche auf der Wiese einen Johanniskopf (d. i. ein Schwamm auf den
Wurzeln der Bäume), kratze mit dem Nagel des Daumens der rechten
Hand die obere Haut Weg, und lege ihn ebenfalls in das Wasser des Jungfernbrunnens.
Versteckt man ihn dann zu Hause unten im Bett, so wird man jene Nummern
sehen, die "kommen werden."
Die Geheimlehre der Lotterieschwestern ist sogar der Mode unterworfen.
In neuester Zeit z. B. halten viele auf "Begebenheiten" und
"Begebnisse", die übrigen Mittel sind nicht mehr vollgiltig.
Eine Frau begegnete zwischen Sivering und der Jägerwiese einem Soldaten,
der zwei Repphühner anhängen hatte. Sie wählte Nr. 2 und
gewann. Heißt einer der einem Glücksuchenden begegnet z. B.
Wilhelm, dessen Namenstag auf den 28. Mai (also den 5. Monat) fällt,
so wählt der begegnende Nr. 28, dazu 5 und noch eine dritte Nummer,
die sich auch leicht findet.
Andere nehmen gewisse Kräuter mit in's Bett; dann träumen sie
Glücksnummern. Im Walde stehen zwei Bäume die eine gemeinschaftliche
Wurzel zu haben scheinen, so daß sie einen bequemen Sitz bilden.
Hier sieht man häufig die Agnes sitzen. Deshalb schneiden die Besucher
3 Stückchen Rinde ab und legen sie unter das Kopfküssen. Dann
wird im Traume die Zukunft geoffenbart.
Das Jungfernbrünnlein und die Jägerwiese am Fuße des Hermannskogels
sind zugleich Mittelpunkte von Volkssagen, und man wird auch in dieser
Hinsicht erinnert an Dodona u.a. griechische Orakelorte, die freilich
eine nazionale Bedeutung halten. Auch Dodona lag am Fuße eines quellenreichen
Berges (tomaros). Die Hauptverehrung galt dem Zeus, an dessen heiligem
Baume der Wille des Gottes erkundet wurde; der Stamm war seine Wohnung,
und am Fuße der Eiche ergoß sich eine heilige Quelle. Auch
das Jungfernbrünnlein hat seinen Baum gehabt, und selbst die Weihgeschenke
sind nicht ganz verschwunden. Ebenso sind die weiblichen Peleiaden Dodona's
bei Sivering vertreten. Dort tronte Zeus und an seiner Seite Dione, als
weibliche Hälfte seines Wesens, hier wandern Karl und Agnes glückspendend
umher. Es fragt sich nun: Wer sind diese Personen? Und damit gehen wir
über zum Sagenkreise unseres Brünnleins.
Ich lege diese Reste schlicht und treu hier nieder, so vollständig
als möglich, und theile zugleich die jeder Volksdichtung eigenen
Abweichungen mit.
Quelle: Mythen und Bräuche
des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken, Wien 1859. S. 4ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, März 2005.