Sage vom Immergrün
Im alten Testament gab es noch kein Immergrün. Als aber die seligste
Jungfrau Maria so weit herangewachsen war, daß sie sich verloben
konnte, stellten sich gar viele und vornehme Freier ein, denn die Jungfrau
war über die maßen schön, so schön, daß sie
Sonne nicht untergehen wollte, so oft sie ihr in Antlitz schien. Weil
sie aber inniglicher Frömmigkeit pflag, wollte sie nur den frömmsten
unter den Brautwerbern haben, gleichviel, ob er hohen oder niederen Satndes
wäre. Deshalb bat sie den Herrn inständig, er möge ihr
durch ein Zeichen ihren künftigen Gemahl zu erkennen geben. Und ihre
Bitte wurde erhört. Also sagte sie eines Tages zu den Freiern: "Derjenige
soll mein Bräutigam werden, dessen Wanderstab grüne Sprossen
treibt." Die Freier waren darüber sehr bestürzt. Eines
Abends saß die holde Jungfrau bei ihren Eltern vor der Hausthür
und genoß der wohltuenden Kühle. Da kam ein armer Zimmermann,
namens Josef, des Weges einhergegangen, der einen Wanderstab mit grünen
Geschösse bei sich führte. Sogleich erkannte die Jungfrau das
Zeichen, und gieng nicht lange hin, da wurde sie mit dem frommen Zimmermann
verlobt.
Bei der Feier steckte dieser seinen Wanderstab in die Erde, und üppiges
Geranke wuchs mit Schnelligkeit aus dem Stabe hervor und klomm daran in
die Höhe. Wie das der hl. Josef ersah, zog er den Stock nimmer aus
dem Boden, und es umschlang ihn immer mehr des lebendigen Grüns und
welkte nimmer jahraus und jahrein und trieb auch fort, als alle Bäume
ihr Laub zur Erde schüttelten. Darum ward das Gewächs Immergrün
geheißen. (Wildschönau.)
Quelle: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf Heyl, Brixen 1897, Nr. 2, Seite 44.