Die Kreuze im Russischen Norden
© Oksana Fedotova

Die Kreuze im Russischen Norden, Teil 1
Die Kreuze im Russischen Norden, Teil 2
Die Kreuze im Russischen Norden, Teil 3

Die meisten Kreuze im Russischen Norden wie in ganz Russland haben acht Enden: der Längsbalken wird von drei Querbalken gekreuzt, davon sind zwei waagerechte parallele Querbalken oben und ein schräggestellter Querbalken unten. Die Basis des Kreuzes – das achte Ende – wurde in der Regel in das Balkengefüge eingeschlossen.
Diese Form des Kreuzes mit acht Enden geht auf die frühen Jahre des Christentums zurück, wenn das Kreuz als Instrument der Hinrichtung gebraucht wurde. Die Hände des zum Tode Verurteilten wurden an die Querbalken gebunden. Das kleine Brett unten diente zum Abstützen der Füße. Über dem Kopf wurde ein Brett mit der Inschrift an das Kreuz genagelt, die über das Verbrechen des Menschen erzählte. So bekam das Kreuz acht Enden und eben dieses Kreuz wurde in Russland weit verbreitet.

Es ist verwunderlich, wie leicht die russischen Meister diese komplizierten geometrischen Figuren an die Landschaften der nördlichen Dörfer eingepasst haben. Sie haben das Kreuz mit einem Dach gedeckt, das oft mit den gleichen Elementen geschmückt wurde, wie das Dach eines Dorfhauses.

Grabkreuz Friedhof in Lebskoje © Oksana Fedotova

Das alte Grabkreuz (der Querbalken unten fehlt) auf dem Friedhof in Lebskoje, Leschukonskij Bezirk, Archangelsker Gebiet. Juli 2006.
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Dieses Dach diente vor allem einem praktischen Zweck, es schützte das Kreuz vor Feuchtigkeit. Aber andererseits war dieses Dach den Dächern der Dorfhäuser sehr ähnlich und erweckte dadurch beim Anblick Gedanken an das Haus, an etwas Gemütliches und Beruhigendes und selbst der Friedhof mit vielen Grabkreuzen schien nicht mehr so fremd und bedrohend zu sein.

Friedhof in Lebskoje an der Mesen © Oksana Fedotova

Der Friedhof in Lebskoje an der Mesen, Leschukonskij Bezirk, Archangelsker Gebiet. Juli 2006.
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Besonders interessant sind die Votivkreuze („обетные кресты”), die nach einem Gelübde, zum Andenken an ein Ereignis (an einen besonders harten Winter, an einen schrecklichen Hunger, einen Brand) oder als Zeichen des Dankes für die Rettung aus einer Gefahr aufgestellt wurden. Wie z.B. S. Maximow in seinem Buch „Ein Jahr im Norden“ 2) schrieb, wurden in der Stadt Mesen am Fluss Mesen noch im 18.Jahrhundert neun Kreuze zum Andenken an einen sehr kalten Winter aufgestellt, wo der Frost bis Ende Mai nicht nachliess und wo „alles Lebende beinahe ausgefroren war“.

Der Brauch, Votivkreuze zu errichten, wurde nach Norden von den Nowgorodern gebracht, bei denen dieser Brauch in einem höheren Maße als in anderen russischen Fürstentümern verbreitet war.

Die Votivkreuze sind noch dadurch interessant, dass sie immer von konkreten Personen zu konkreten Anlässen gemacht wurden. Viele Kreuze wurden dann sogar nach den Namen ihrer Schöpfer genannt. Zum Beispiel in Kojnas (Leschukonskij Bezirk, Archangelsker Gebiet) gibt es ein Kreuz, das in der Gegend als Kreuz von Tatjana bekannt ist und dessen Geschichte immer noch in Erinnerung der Ortsbewohner lebt. Es wird erzählt, dass auf dem Hügel, wo jetzt das Kreuz steht, ein Heuschlag war. Der Besitzer hatte eine Frau, die Tatjana hieß. Einmal wurde Tatjana sehr krank und da es in der Nähe keine Kirchen gab, brachte der Mann seine Frau in die Republik Komi. Dort hat sie viel in den Kirchen gebetet und wurde gesund. Der Mann hat sein Gelübde gehalten und ein Kreuz auf dem Hügel aufgestellt.  

Die Votivkreuze sind in den Dörfern an der Nördlichen Dwina, an den Flüssen Pinega und Mesen, an der Küste und auf den Inseln des Weißen Meeres zu treffen. Die meisten Votivkreuze befinden sich aber an dem schönen nördlichen Fluss Mesen, hier konnten sie auch die Höhe bis 6-8 Meter erreichen.  

Mesen © Oksana Fedotova

Mesen. Juli 2006
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Die Menschen, die im Norden Kreuze machten, egal ob Votiv-, Grab- oder Anbetungskreuze, schmückten ihre Kreuze mit Holzschnitzerei. Als Inschriften wurden die Sprüche aus Evangelium, die ganzen Sätze oder nur die Satzteile benutzt, sie wurden mit Hilfe von Abkürzungen oder bestimmten Symbole aufgeschrieben. Die Inschriften haben den Kreuzen eine besondere Schönheit und Eigenartigkeit verliehen, viele nördliche Kreuze konnten mit Recht als Meisterwerke gelten.

Friedhof in Lebskoje, Archangelsk © Oksana Fedotova

  Die alten Kreuze auf dem Friedhof in Lebskoje, Leschukonskij Bezirk, Archangelsker Gebiet. Juli 2006
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Ganz oben auf dem Längsbalken wurde in der Regel der kanonische Titel von Jesu Christi IHЦI (lat. INRI – Jesus, der Nazoräer, der König der Juden) geschnitten /1/.

Holzschnitzerei auf dem Friedhof in Lebskoje, Archangelsk © Oksana Fedotova

Das alte Kreuz mit Holzschnitzerei auf dem Friedhof in Lebskoje, Leschukonskij Bezirk, Archangelsker Gebiet. Juli 2006
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Zu beiden Seiten der zwei oberen Balken waren die Abkürzungen ЦР СВ oder ЦРЪ СВЫ (Царь Славы – der König der Glorie) /2/ und IСЪ ХСЪ (Иисус Христос – Jesu Christi) /3/.

Auf dem vertikalen Balken zwischen den beiden horizontalen Querbalken war die Abkürzung
СН БЖ, oder die kürzere Variante СБ (Сын Божий – Gottessohn) /4/.

Auf dem größten mittleren Balken wurde fast immer die Aufschrift „Dein Kreuz, Herr, beten wir an und lobsingen deine heilige Auferstehung“ /5/ geschnitten, dabei fehlten viele Vokale in den Wörtern, das war die slawische Kirchensprache.
In das Kreuz wurde oft auch die Kontur eines Kreuzes mit 8 Enden geschnitten /6/.

Häufig hat man im oberen Teil ein kleines Kreuz oder eine kleine Ikone an das Kreuz genagelt:

Holzschnitzerei auf dem Friedhof in Lebskoje, Archangelsk © Oksana Fedotova

Das alte Kreuz mit Holzschnitzerei auf dem Friedhof in Lebskoje, Leschukonskij Bezirk, Archangelsker Gebiet. Juli 2006
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Auf dem Längsbalken ist oft die Abbildung einer Picke und eines Stockes zu sehen, die bei der Kreuzigung von Jesu benutzt wurden. Darüber oder daneben waren die Bezeichnungen „K“ und „T“ („K“ - копье (Picke), „T“ - трость (Stock)) /7/:

Kreuz aus dem Freilichtmuseum Malye Korely. Archangelsk © Oksana Fedotova

Der obere Teil des Kreuzes aus dem Freilichtmuseum „Malye Korely“. Archangelsk, 12.Mai 2007.
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Unten auf dem Kreuz befinden sich verschiedene Symbole und Zeichen, die mit den wichtigsten Ereignissen im Leben Christi verbunden waren. Das kann ein Becher sein, in den Bluttropfen fallen, oder Golgota mit Kryptogramm ГГ (Гора Голгофа – Berg Golgota) /8/. In meisten Fällen schilderte man Golgota als stufenförmigen Berg, in dem man den Kopf von Adam sehen könne: ГА (Голова Адама – Kopf von Adam) /9/. 

Das verbindet man mit einer alten Kirchenlegende vom Begräbnis des Schädels von Adam in Golgota.

Kreuz aus dem Freilichtmuseum Malye Korely. Archangelsk © Oksana Fedotova

Der untere Teil des Gedenkkreuzes in Archangelsk. 25.Mai 2007.
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2) 1856-57 hat der junge Ethnograf und Schriftsteller Sergej Maximow eine Reise durch den Russischen Norden unternommen. Seine Eindrücke hat er im Buch „Ein Jahr im Norden“ beschrieben, das 1859 herausgegeben wurde. Für dieses Buch hat Maximow die Goldmedaille der Russischen Geografischen Gesellschaft bekommen.




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